Wilde Chrysantheme
hatte.
»So scheint es«, sagte Juliana verärgert. »Und trotzdem glaube ich nicht, daß er jemals etwas tut, was ihm keinen Nutzen bringt. Bestimmt würde er sich niemals wegen irgend jemandem wirkliche Umstände machen. Er ist nur freundlich, solange es ihm keine Unannehmlichkeiten bereitet. Aber er würde ohne weiteres einen Menschen blutend am Straßenrand liegen lassen, wenn ihn sein Weg in eine andere Richtung führte oder er etwas Wichtigeres vorhätte, als zu helfen.«
Noch während sie sprach, erinnerte sie sich daran,wie er zu ihrer Rettung gekommen war, als Lucien sie gedemütigt und gequält hatte, und wie überwältigend dankbar sie für Tarquins Eintreten gewesen war. Er hatte Lucien verboten, jemals wieder einen Fuß in sein Haus zu setzen, weil er sie, Juliana, verletzt hatte. Familienstreitigkeiten waren unglaublich unbequem und störend, und dennoch hatte der Herzog seinen Frieden geopfert, um Juliana beizustehen. Natürlich hatte er sie den Gefahren durch Lucien überhaupt erst ausgesetzt, deshalb war es ja auch, strenggenommen, seine Pflicht, den Schaden wieder zu beheben.
Lucy sah zwar vorwurfsvoll aus, schien jedoch Verständnis zu haben, und Juliana fiel wieder ein, daß sie noch gar nichts von Tarquins großzügigem Angebot erwähnt hatte, dem Mädchen finanziell unter die Arme zu greifen. Es war sicherlich freundlich von ihm, aber es würde sein Vermögen wohl kaum schmälern. Er war so unermesslich reich, daß kleinere Summen kaum ins Gewicht fielen. Quentin hatte gesagt, sein Bruder sei mehr als großzügig; aber war es wirklich Großzügigkeit, wenn man geben konnte, ohne selbst das geringste Opfer bringen zu müssen?
Juliana war jedoch gezwungen, sich Lucys erstaunte Dankbarkeitsbekundungen anzuhören, die überschwenglich das Loblied des Herzogs sang, als sie von ihrem Glück erfuhr.
Tarquin saß an seinem Schreibtisch, damit beschäftigt, eine Rede umzuschreiben, die sein Sekretär für ihn verfaßt hatte und die er heute abend vor dem Oberhaus halten sollte. Sein Sekretär war eine fleißige, gewissenhafte Seele, aber ein bißchen langweilig, und der Herzog fürchtete, daß die Rede sowohl ihn beim Vortragen als auch seine Zuhörer spätestens nach fünf Minuten in Schlaf versenken würde, wenn er nicht ein bißchen Schwung hineinbrachte. Nicht, daß die Peers selbst der aufregendsten Debatte sonderlich viel Aufmerksamkeit schenkten! Den größten Teil der Zeit würden sie vor sich hin schnarchen, während sie ein ausgedehntes und reichhaltiges Dinner verdauten.
Als Juliana anklopfte und den Raum betrat, blickte er auf. Sie knickste höflich. »Sie wollten mich sprechen, Mylord?«
Er schob seinen Stuhl zurück und winkte sie zu sich. Als sie vor ihm stand, nahm er ihre Hände in seine und drehte sie herum. Zu ihrem Erstaunen hob er sanft ihre Handflächen an seine Lippen und drückte einen Kuß hinein. »Was machen deine Verletzungen,
Mignonne?«
»Meine Schultern tun noch weh, trotz Hennys Arnikasalbe«, erwiderte sie mit seltsam belegter Stimme. Sein Atem streifte warm über ihre Hände, die er jetzt zusammengefaltet an seinen Mund hielt. Er küßte zärtlich jeden einzelnen Fingerknöchel, wobei seine Zunge schlangenähnlich zwischen ihre gebeugten Finger glitt, und jede feuchte, unerwartete Liebkosung ließ die feinen Härchen in ihrem Nacken sich aufrichten und erregende kleine Schauder über ihre Haut rieseln.
»Hast du mir verziehen, daß ich mir Lucien nicht rechtzeitig vorgeknöpft habe?« Die hinterhältigen Liebkosungen gingen weiter, während seine Zähne jetzt sacht an ihrem Handrücken knabberten.
Juliana verlor den Bezug zur Wirklichkeit. Sie hörte seine Worte kaum. Benommen verlagerte sie ihr Gewicht auf dem orientalischen Teppich; sie blickte auf seinen gebeugten Kopf hinunter und bemerkte wieder einmal, wie dicht und glänzend sich sein Haar aus seiner breiten Stirn zurückwellte. In welcher Hinsicht konnte sie behaupten, sie hätte ihm nicht längst alles verziehen, wenn eine einzige liebevolle Berührung ihren Körper in geschmolzene Lava verwandelte?
Er blickte auf und umschloß ihre gefalteten Hände fest mit seinen. Seine Augen lächelten, aber sein Ton war ernst. »Es gibt noch so viel zu genießen,
Mignonne.
Können wir von jetzt ab erfreulichere Wege einschlagen?«
Juliana fand keine Worte. Ihr Körper sagte freudig ja, aber ihr Verstand sträubte sich dagegen. Wie konnte sie so einfach vergessen, daß sie noch immer eine Gefangene seines Plans
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