Wilde Chrysantheme
gebunden wurden. Die anderen Frauen hatte man hinausgeführt, und ihre Stimmen waren in der Halle zu hören, von überschwenglicher Dankbarkeit und Reue erfüllt, als die beiden Bordellwirtinnen die Geldbuße für sie entrichteten. Die Mädchen hatten gerade eine Lektion erteilt bekommen, und eher würde die Hölle zufrieren, als daß sie auch nur in Erwägung zögen, sich jemals wieder für ihre eigenen Belange einzusetzen.
»Na dann kommt mal mit, meine Hübschen.« Einer der Büttel grinste Juliana und ihre Leidensgefährtinnen an und kitzelte Rosamund unter dem Kinn. »Du wirst dir deine schönen Augen verderben, wenn du weiter so weinst, dumme Gans. Ich an deiner Stelle würd' mir meine Tränen für die Anstalt aufsparen.« Er lachte herzhaft über seinen Scherz, und Juliana, Lilly und Rosamund wurden aus dem Haus gezerrt zu einem offenen Karren, der draußen bereitstand.
Juliana überfiel Übelkeit, als sie darauf wartete, daß die Männer ihre gefesselten Hände an ein Seil hinter dem Karren binden und ihr das Oberteil ihres Kleides bis zur Taille hinunterziehen würden. Aber sie wurden kurzerhand in den Karren verfrachtet, und ihre Erleichterung war so groß, daß sie zum ersten Mal, seit dieses Martyrium begonnen hatte, befürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Sie legte einen Arm um Rosamund und hielt Lillys Hand fest umklammert, während sie zu dritt in dem banklosen Fahrzeug standen und ruckelnd und schaukelnd über das Kopfsteinpflaster holperten.
Der Morgen dämmerte bereits, und die Straßen der Stadt füllten sich mit Straßenhändlern, Männern, die den Müll aus den Gossen fischten, Bierkutschern und Bediensteten aller Art, die zum Markt eilten. Der nächtliche Lärm in Covent Garden war verstummt, ersetzt von den rauhen Rufen der Marktleute, dem Rattern von Eisenrädern und dem Trappeln von Pferdehufen. Als der Wagen mit den drei gefesselten Frauen durch die Straßen gezogen wurde, johlten und buhten die Leute höhnisch, Erdklumpen flogen sowie Stücke von verfaulten Früchten – kleine Jungen rannten neben dem Karren her und sangen obszöne Lieder.
Juliana malte sich aus, wie sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Sie stellte sich vor, wie sie inmitten einer johlenden Menschenmenge an den Pfahl gefesselt wurde. Schon spürte sie die Schlinge um ihren Hals, die barmherzig das Bewußtsein aus ihrem Körper quetschte, bevor sie die Holzscheite unter ihren Füßen in Brand steckten. Sie durchlebte den Alptraum in allen Einzelheiten und verdrängte auf diese Weise die entsetzliche Realität dieser demütigenden Reise.
Der Kutscher des Herzogs war auf seinem Sitz fest eingeschlafen. Er hatte vorgehabt, nur ein oder zwei Minuten zu dösen, doch als er aufwachte, herrschte heller Tag. Mit einem wüsten Fluch sprang er von der Kutsche, immer noch benommen vom Schlaf, aber sein Herz hämmerte vor Furcht. Ohne einen Gedanken an seine Pferde zu verschwenden, stürmte er über den Platz, wobei er immer wieder den Marktleuten ausweichen musste, die gerade ihre Stände aufbauten. Er hatte Lady Edgecombe in diese Richtung verschwinden sehen, aber wo war sie danach hingegangen? Er blieb einen Moment schwer atmend stehen und blickte sich aufgeregt um, als würde er sie in aller Gemütsruhe unter den Kolonnaden des Marktplatzes sitzen sehen. Aber er wußte, daß etwas ganz und gar nicht stimmte. Und er hatte die ganze Sache verschlafen. Der Herzog würde ihm gehörig das Fell gerben und ihn dann ohne Zeugnis auf die Straße werfen, dem Hungertod ausgeliefert.
»Hast du was verloren, Kumpel?« fragte ein freundlicher Fuhrmann, der einen schweren Korb voller Kohlköpfe geschickt auf dem Kopf balancierte.
Der Kutscher sah völlig verwirrt aus. »Die Lady«, stotterte er. »Ich habe die Lady verloren.«
Der Fuhrmann schmunzelte. »In Covent Garden kann es schon mal passieren, daß einem eine Lady abspenstig gemacht wird, Kumpel. Aber da, wo die eine hergekommen ist, gibt's noch genügend andere, glaub mir.«
Der Kutscher versuchte erst gar nicht, etwas zu erklären, was er selbst nicht verstand. Seine größte Furcht war, daß Lady Edgecombe entführt worden war, eine vornehme Dame, allein in dieser Bannmeile des Lasters. Es wäre nicht das erste Mal, daß so etwas geschah. Und es musste schon vor mindestens einer Stunde passiert sein. Sie konnte praktisch überall in dem Londoner Irrgarten von üblen, engen Gassen und dunklen, feuchten Hinterhöfen sein.
»Hast du von dem Krawall bei Cocksedges gestern nacht
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