Wilde Chrysantheme
sichtlicher Ungeduld –, während der Sekretär umständlich den Haftentlassungsbefehl ausschrieb. Tarquin riß dem Mann das Blatt Papier fast aus der Hand, stopfte es in die Tasche seines Gehrocks und warf Sir John ein knappes »Vielen Dank« über die Schulter zu, als er aus dem Raum marschierte, Quentin auf seinen Fersen.
»Was schätzt du, Quentin, wie lange Juliana schon dort ist?« Tarquins Stimme klang gepreßt, sein Gesicht war eine undurchdringliche Maske, als er seine Pferde antrieb und sie in scharfem Tempo durch die sich rapide belebenden Straßen lenkte.
Quentin warf einen Blick auf seine Taschenuhr, der Zeiger stand auf neun. »Sie sind kurz vor dem Morgengrauen dem Haftrichter vorgeführt worden. Und ich würde sagen, daß sie vielleicht zwei Stunden später in Tothill Bridewell eintrafen.«
»Also gegen sieben. Das würde bedeuten, daß sie seit circa zwei Stunden dort ist.« Eine Andeutung von Erleichterung schwang in Tarquins Stimme mit. Es würde länger als zwei Stunden dauern, um Juliana mürbe zu machen. »Hat sie mit dir über diese fixe Idee gesprochen, die sie bezüglich der Straßenmädchen hegt?« Er ließ sich nichts von seinem Ärger darüber anmerken, daß Juliana sich nicht ihm anvertraut hatte – ein Ärger, der mehr gegen sich selbst gerichtet war als gegen sie. Er war gar nicht auf die Idee gekommen zu fragen, was sie eigentlich in Covent Garden vorgehabt hatte bei ihrem letzten Ausflug, der in Georges Entführungsversuch gipfelte. Seiner Meinung nach hatte sie ihre Freundinnen ganz einfach zum Vergnügen besucht. Jetzt ging ihm indessen auf, daß doch mehr dahintersteckte.
»Ein wenig. Meistens dann, wenn wir an Lucys Bett saßen. Ich glaube, Julianas eigene Erfahrungen haben sie besonders sensibel für die Not dieser Frauen gemacht. Ausbeutung, wie sie es nennt!«
»Hölle und Pest!« Tarquin überholte einen langsam dahinzockelnden Rollwagen auf der schmalen Fahrbahn, und zwar so knapp, daß er den Lack seines Phaetons ankratzte. »Ausbeutung! Wer, zum Teufel,
hat sie
denn ausgebeutet?«
»Du.«
Tarquins Ausdruck wurde finster, und in seinen Augen erschien das bedrohliche Glitzern des Zorns. Aber er verkniff sich einen Ausbruch, und Quentin hielt klugerweise ebenfalls den Mund.
Wenige Minuten später ragte die furchterregende Fassade der Besserungsanstalt Tothill Bridewell vor ihnen auf. Tarquin zügelte die Pferde vor dem massiven Eisentor. Eine Seitenöffnung schwang auf, und ein ungekämmter Wächter trat heraus. Er registrierte die Equipage und die arrogante Ungeduld des Gentlemans auf dem Kutschbock. Seine Verbeugung geriet etwas halbherzig. »Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht in der Adresse geirrt haben, werte Herren?«
Tarquin sprang vom Kutschbock. »Hier, halten Sie die Zügel«, befahl er und drückte sie dem verdutzten Torwächter in die Hand. »Wo finden wir den Verwalter dieser Anstalt?«
»Äh, bei seinem Frühstück, Sir, wie ich annehme.« Der Wächter blickte alarmiert auf die beiden unruhig mit den Hufen stampfenden Pferde, die jetzt in seiner Obhut waren. »In seinem Haus«, fügte er hilfreich hinzu.
»Und wo befindet sich das?« fragte Quentin schnell, da er spürte, daß Tarquin knapp davor war, den Torhüter zu erdrosseln.
»Über den Hof und dann gleich links. Das Haus, das für sich allein steht.«
»Danke.« Quentin fischte einen Souvereign aus seiner Tasche. »Hier, für Ihre Mühe. Sie bekommen noch einen, wenn wir alles erledigt haben.« Dann eilte er hinter Tarquin her, der bereits durch das Seitentor verschwunden war.
Den Hof umschlossen hohe Mauern. Ein Schandpfahl ragte in der Mitte auf, daneben eine Handvoll Stöcke und ein Pranger. In einem Winkel drehte sich eine massive Getreidemühle und ächzte bei jeder Kurve. Eine Gruppe von Frauen mit bis zu den Knien hochgerafften Unterröcken und bloßen Füßen trottete müde im Kreis herum, und ein Aufseher mit einer langen Peitsche trieb sie zu größerer Eile an, während er sie kontrollierte.
Ein schneller Blick sagte den Brüdern, daß man Juliana nicht zu dieser barbarischen Schinderei abkommandiert hatte. Tarquin schlug mit der Faust an die Tür eines gedrungenen Häuschens, das etwas abseits von dem langen, schmalen, niedrigen Gebäude stand, in dem die Besserungsanstalt untergebracht war.
»Schon gut… schon gut… bin ja schon unterwegs.« Die Tür öffnete sich, und eine Frau streckte den Kopf heraus. Früher war sie sicherlich einmal hübsch gewesen, mit glatten Wangen,
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