Wilde Chrysantheme
fröhlichen blauen Augen und goldblondem Haar. Doch jetzt entstellten ihr Gesicht Blatternarben. Boshaftigkeit flackerte in ihren Augen und die resignierte Akzeptanz eines kargen Daseins; ihr von grauen Strähnen durchzogenes Haar hing in langen Zotteln auf ihre mageren Schultern herab. Mit überrascht geweitetem Blick musterte sie ihre Besucher.
»Ich möchte mit dem Verwalter dieser Anstalt sprechen«, erklärte Tarquin schroff. »Holen Sie ihn her, gute Frau.«
»Er sitzt gerade beim Frühstück, Mylord.« Sie knickste flüchtig. »Aber wenn Sie schon mal mitkommen wollen…« Sie wies hinter sich auf einen engen, schmuddeligen Korridor.
Tarquin nahm die Einladung an, Quentin folgte ihm unmittelbar. Der Korridor führte zu einem quadratischen Raum, aus dem ein penetranter Geruch nach alten gebratenen Zwiebeln und kochenden Fischköpfen drang. Ein Mann in einer schmutzigen Weste, die Hemdsärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt, saß an einem Tisch und schaufelte sich mit der Klinge seines Messers gekochte Innereien in den Mund.
Als die Tür aufging, blickte er hoch. »Verdammt, Agnes, ich habe dir doch gesagt, ich will nicht gestört werden…« Dann erstarb seine Stimme, als er seine Besucher entdeckte. Ein verschlagener Ausdruck trat in seine Augen. Er wischte sich sein fetttriefendes Kinn mit dem Handrücken ab und sagte in kriecherischem Tonfall: »Also, was kann Jeremiah Bloggs für Sie tun, werte Gentlemen?«
Tarquin sah ihm an, daß er im Geiste bereits Berechnungen darüber anstellte, wieviel wohl an Bestechungsgeldern aus dieser Situation herauszuschlagen wäre, worum auch immer es sich handeln mochte. Gefängnisverwalter bekamen kein Gehalt, aber es stand ihnen frei, sowohl die Gefangenen als auch ihre Besucher zu erpressen und »Gebühren« von ihnen zu kassieren für alles, was ihnen gerade einfiel.
»Ich habe einen gerichtlichen Entlassungsbeschluß für eine Frau, die heute morgen irrtümlich hier eingeliefert wurde«, sagte er und legte das Dokument auf eine Ecke des schmutzverkrusteten Tisches. »Wenn Sie so gut sein würden, sie herbringen zu lassen.«
Der verschlagene Ausdruck verschärfte sich noch. Bloggs strich sich mit einer Daumenspitze über seine lose hängende Unterlippe. »Tja, das geht nicht so einfach, verehrter Sir.«
»Und wie das geht«, schnappte Tarquin. »Dieses Dokument hier ist ein gerichtlicher Befehl, daß die Gefangene Juliana Beresford augenblicklich freizulassen ist. Ohne Verzögerung oder Behinderung. Wenn Sie Schwierigkeiten haben, Ihren Pflichten nachzukommen, mein guter Mann, dann werde ich dafür sorgen, daß Sie durch jemanden ersetzt werden, der keine Probleme damit hat.«
Der verschlagene Ausdruck in den Augen des Mannes verwandelte sich in ein bösartiges Funkeln. »Ich weiß doch gar nicht, wo sie untergebracht ist, Mylord«, winselte er. »Wir haben ein Dutzend Abteilungen oder so, einschließlich der Säle für die Verrückten. Vielleicht wollen Sie lieber selbst nachsehen. Könnte den Vorgang womöglich etwas beschleunigen.«
»Gewiß. Aber Sie werden uns begleiten!«
Wütend vor sich hin murmelnd, ließ der Verwalter seinen Teller stehen, trank seinen Gin zu Ende, griff nach einem gewaltigen Schlüsselbund und stampfte vor ihnen her in den Hof.
Der Gestank von Exkrementen überwältigte sie in der Sekunde, als die Tür zu dem Gefängnistrakt geöffnet wurde. Quentin hustete würgend. Tarquin zog ein Taschentuch hervor und preßte es sich vor die Nase, sein Ausdruck noch grimmiger als zuvor. Den Verwalter schien die unerträgliche Luft nicht zu stören. Er bewegte seine massige Gestalt den Gang entlang, wobei er vor jeder vergitterten Zelle innehielt, die Tür aufschloß und ihnen mit einer mürrischen Geste bedeutete, in den Raum hineinzuschauen.
Magere Frauen mit matten, trüben Augen erwiderten ihren forschenden Blick, ohne mit dem rhythmischen Klopfen ihrer Hanfhämmer innezuhalten. Ratten huschten durch das schmutzige Stroh zu ihren Füßen; ihre Aufseher saßen gemütlich auf Hockern an der Wand und schwangen gelegentlich ihre Ruten, wenn sie der Ansicht waren, daß jemand in seinem Arbeitseifer nachließ.
Quentin konnte sein Entsetzen nicht verhehlen. Er hatte immer gewußt, daß diese Orte existierten; tatsächlich hatte er sogar angenommen, daß Besserungsanstalten für das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft nötig wären. Aber angesichts dieses unsäglichen, stinkenden Elends fühlte er sich gezwungen, seine Annahmen in
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