Wilde Chrysantheme
Frage zu stellen. Er warf einen Blick auf seinen Bruder. Tarquins Miene war völlig ausdruckslos – ein sicheres Zeichen für den Tumult, der in seinem Inneren tobte.
An der sechsten Abteilung blieben sie vor einer mit schweren Eisenstangen vergitterten Tür stehen. Mr. Bloggs schob seinen Schlüssel in das Schloß. »Wenn sie hier nicht drin ist, meine Herren, dann weiß ich wirklich nicht, wo sie sein könnte. Es sei denn, sie ist bereits übergeschnappt, oder sie haben sie in die Tretmühle gesteckt. Was sie hoffentlich nicht getan haben. Wo sich die Sache doch als Irrtum rausgestellt hat und so!« Er grunzte mit einem Unterton, der fast ein Kichern hätte sein können bei dem Gedanken, daß eine Unschuldige einem solchen Irrtum zum Opfer gefallen war. »Kann mir nicht vorstellen, daß Sir John tatsächlich ein Fehler unterlaufen sein soll.« Er schob die Tür auf und trat beiseite.
Juliana war vollkommen auf den Rhythmus ihres Hammers konzentriert. Sie gestattete ihren Augen nicht, irgend etwas anderes als den Hanf vor sich zu sehen. Als sich die Fasern von ihrer zähen Hülle zu lösen begannen, erfüllte sie eine trotzige Befriedigung. Gegenwärtig galt es ausschließlich, ihre Arbeit zu verrichten. Das Hämmern in ihren Ohren, ihrem Blut, den qualvollen Zustand ihrer Hände verdrängte sie instinktiv so weit wie möglich aus ihrem Bewußtsein. Neben ihr schwang Lilly unentwegt ihr Werkzeug. Ohne sich mit einem Blick oder Wort zu verständigen, vertauschten sie Rosamunds klägliche Ergebnisse mit ihren eigenen, fertig bearbeiteten Strängen. Doch trotz ihrer vereinten Anstrengungen waren Rosamunds Hände bereits innerhalb der ersten Stunde blutig und übel zugerichtet, wie Maggie schadenfroh vorausgesehen hatte, und ihre Tränen vermischten sich mit dem Blut, das auf den Hanf tropfte.
Es musste doch einen Ausweg aus diesem Alptraum geben. Aber Julianas Hirn war völlig stumpf geworden durch den betäubenden, eintönigen Lärm und die lähmende Erschöpfung. Seit vierundzwanzig Stunden hatte sie nicht mehr geschlafen, und diese Arbeit würde vermutlich bis zum Einbruch der Dunkelheit weitergehen. Sie war einfach nicht mehr fähig zu denken oder irgend etwas zu tun, außer auf den Hanf zu starren und ihren Körper dazu zu zwingen, mechanisch zu funktionieren.
In dem Moment, als sich die Tür öffnete, schrie Rosamund auf. Der Hammer entglitt ihren Händen und landete polternd auf dem Hauklotz. Wie hypnotisiert starrte sie auf ihre Handflächen, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie hob den Blick, um sich wild in dem Raum umzusehen, als gewahrte sie erst jetzt zum ersten Mal wirklich ihre Umgebung; dann brach sie mit einem erneuten Schrei der Verzweiflung in dem schmutzigen Stroh zusammen.
Juliana fiel auf die Knie, Lilly ließ sich neben sie sinken. Sie ignorierten die Unruhe an der Tür. Lilly hob Rosamunds Kopf an und bettete ihn in ihren Schoß. Juliana wollte tröstend ihre Hände nehmen, wagte es jedoch nicht, sie zu berühren. Ihre eigenen Hände schmerzten unbarmherzig, nun, da ihre Konzentration unterbrochen war, doch sie streichelte Rosamunds tödlich bleiche Wange.
»Holen Sie Hirschhornsalz und Wasser, Mann!« Sie rief die Anweisung über ihre Schultern hinweg in die Richtung, wo sie den Aufseher das letzte Mal gesehen hatte.
Maggie lachte meckernd. »Hirschhornsalz und Wasser! Hätten Mylady vielleicht auch noch gern Ihr Riechsalzfläschchen? Oder etwas Kamillenbalsam gefällig?«
Juliana war mit einem Satz auf den Füßen. Sie fuhr zu der grinsenden Frau herum, ihre Augen schössen Blitze vor Zorn, ihre blutenden Hände waren zu Klauen gekrümmt. Maggie wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als die rothaarige Furie Anstalten machte, sich auf sie zu stürzen.
»Juliana! Mach die Sache nicht noch schlimmer, als sie ohnehin schon ist.«
Sie wirbelte zur Tür herum, als Tarquins ruhige Stimme den blutroten Nebel ihrer Wut durchdrang. Seine Stimme klang beherrscht, aber seine Augen waren so heiß wie Lava, um seinen angespannten Mund lag ein weißer Schatten, an seinem Kiefer zuckte ein Muskel. Juliana sah nur Tarquins ohnmächtigen Zorn – seine Miene verriet nichts von den Qualen, die er die letzte Stunde durchgemacht hatte, nichts von seiner überwältigenden Erleichterung bei der Feststellung, daß Juliana ungebrochen war und nicht ernstlich verletzt.
»Was tun
Sie
denn hier?« Es überraschte sie selbst, wie verdrießlich ihre Worte klangen, noch während sie über ihre
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