Wilde Chrysantheme
Lippen kamen. Sie sehnte sich danach, sich in seine Arme zu werfen, von der Kraft seines Körpers eingehüllt zu werden, sicher in die Gewißheit seines Schutzes zu tauchen. Nichts wollte sie mehr, als beruhigt und getröstet zu werden, wollte die sanften Worte der Liebe von seinen Lippen hören. Sie hatte sich eingeredet, wenn er käme, um sie hier herauszuholen, dann nur deshalb, weil es seinen Zwecken diente, und nicht etwa, weil er sie vermißte. Doch als er dort stand, in einer derart furchteinflößenden Angriffshaltung, fühlte sie eine Enttäuschung, so tief wie nie zuvor in ihrem Leben.
Ihr Blick schweifte zu Quentin, der hinter dem Herzog stand, sein Ausdruck eine starre Maske des Entsetzens. Quentin würde verstehen, was sie dazu gebracht hatte, in diesem erbärmlichen Loch zu landen. Er würde erkennen, was sein Bruder nicht wahrnahm – ihre Schwäche und ihre unvorstellbare Erleichterung, daß das Martyrium vorbei war.
»Das gleiche könnte ich dich fragen«, erwiderte der Herzog, als er auf sie zukam.
Er nahm ihre Hände in seine warmen, starken Finger und drehte sie herum. Sein Zorn kannte keine Grenzen bei dem Anblick, der sich ihm bot, und er musste gewaltsam an sich halten, um das aufgerissene, blutige Fleisch nicht an seine Lippen zu ziehen und die Verletzungen mit dem Balsam seiner Küsse zu lindern. Aber das hob er sich für später auf. Juliana war nicht in Lebensgefahr, und er musste sie zuerst von diesem schmutzigen, ungezieferverseuchten Ort des Schreckens wegbringen, bevor er irgend etwas anderes unternahm.
»Komm«, sagte er, und seine Stimme klang schroff vor Sorge. Er wandte sich zur Tür um.
Juliana riß ihre Hände wütend aus seinem Griff; der Schmerz ihres geschundenen Fleisches verblaßte neben der zornigen Ungläubigkeit, die in ihr aufwallte. Nahm er allen Ernstes von ihr an, daß sie mit ihm hinausging und ihre Freundinnen im Stich ließ?
»Ohne Lilly und Rosamund tue ich keinen Schritt.« Wieder griff sie nach ihrem Hammer. »Meinetwegen sind sie hier. Sie haben sich genausowenig irgendeines Vergehens schuldig gemacht wie ich. Jene beiden verabscheuungswürdigen Kreaturen aus der Gosse haben uns verraten, und ich werde meine Nennschwestern nicht in dieser Hölle zurücklassen. Für mich allein genügt Ihr Eingreifen nicht, und so will ich es auch nicht.« Sie hob den Hammer mit beiden blutigen Händen und ließ ihn erneut auf den Hanf niederkrachen, während sie unter Aufbietung ihres ganzen Willens gegen die schreiende Qual aufgeplatzten Fleisches ankämpfte.
Tarquin fuhr mit einem ungläubigen
»Was?«
zu ihr herum, und Quentin musste ein Lächeln unterdrücken, als er den zutiefst entgeisterten Ausdruck seines sonst so unerschütterlichen Bruders wahrnahm.
Juliana ignorierte die Frage, und Tarquin betrachtete mit finsterem Stirnrunzeln die mitleiderregende, zusammengekrümmte Gestalt des Mädchens auf dem Fußboden, die offensichtliche Verzweiflung der dritten im Bunde, und plötzlich schämte er sich.
Es war keine Gefühlsregung, die er kannte. Ungeduldig nahm er Juliana den Hammer weg und warf ihn auf den Boden. »Quentin, bring sie von hier fort, während ich mich um die anderen kümmere.« Er packte Juliana an den Schultern, wirbelte sie herum und schob sie energisch zu seinem Bruder, der sie in seinen Armen auffing und an seine Brust drückte.
»Ich gehe nicht ohne meine Freundinnen!« Ihr Protest ertrank in Quentins schwarzem Gehrock.
»Juliana, ich rate dir, wenigstens dieses eine Mal in deinem Leben zu gehorchen!« warnte Tarquin mit gefährlich leiser Stimme.
»Kommen Sie«, murmelte Quentin beschwichtigend. »Tarquin wird ihre Freilassung aushandeln.«
Juliana blickte von einem Bruder zum anderen und sah nur Aufrichtigkeit und Zuversicht in ihren Augen. »Rosamund muß getragen werden«, sagte sie mit Nachdruck. »Wir werden eine Tragbahre für sie finden müssen.«
»Das kannst du getrost mir überlassen. Und jetzt sieh zu, daß du aus dieser stinkenden Kloake herauskommst. Wer weiß, was für Krankheitskeime hier lauern… Bloggs, auf ein Wort mit Ihnen!« Tarquin winkte mit einer brüsken Kopfbewegung den Verwalter herbei, dessen Augen jetzt vor Gier schielten. Falls er die Situation nicht mißverstanden hatte, war er im Begriff, eine beträchtliche Bestechungssumme zu kassieren. Er bahnte sich eilfertig einen Weg zu dem Herzog, der sich in die gegenüberliegende Ecke der Zelle zurückgezogen hatte.
Juliana ließ sich von Quentin hinaushieven. Als
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