Wilde Chrysantheme
brannten keine Kerzen, aber er stieg die Stufen mit der trittsicheren Vertrautheit eines Menschen hinauf, der seinen Weg auch in völliger Dunkelheit findet. George tastete sich hinter ihm empor und versuchte, den Atem anzuhalten, während er sich seiner keuchenden Erregung bewußt war, einer Schwere in seinen Lenden, die er bisher immer nur mit fleischlicher Begierde assoziiert hatte.
Lucien öffnete eine dritte Tür am obersten Treppenabsatz und spähte um die Ecke. Der Korridor war schwach erhellt von Leuchtern, die in ziemlich großen Abständen an der Wand angebracht waren. Es herrschte absolute Stille. Er schlüpfte in den Korridor, gefolgt von George, dessen Silhouette einen riesigen Schatten auf die gegenüberliegende Wand warf.
Das Haus war so stumm wie ein Grab, als sie Julianas Tür erreichten. Lucien trat zurück und preßte sich gegen die Wand. »Sie schläft dort drinnen. Nun ist Ihnen ja der Weg bekannt. Ich werde inzwischen eine Mietdroschke holen und an der Straßenecke auf Sie warten.«
George nickte; seine Augen in dem wächsernen, schwitzenden Gesicht glitzerten gierig, seine Lippen waren feucht. Er legte eine Hand auf den Türknauf, als Lucien eilig davonhuschte. Der Viscount hatte kein Bedürfnis, noch tiefer in diese Entführung verstrickt zu werden.
Die Tür öffnete sich geräuschlos unter Georges Griff. Der Raum lag im Dämmerlicht, schwach erleuchtet durch das Glühen der Holzscheite im Kamin. Die Bettvorhänge bauschten sich an den Seiten, und er hatte einen ungehinderten Blick auf die schlafende Gestalt. Einen Moment lang stand er da und betrachtete sie. Sah, wie sich die Decke über Julianas Busen bei jedem Atemzug sanft hob und senkte. Wie ihr Haar auf dem Kopfkissen ausgebreitet lag, eine schimmernde Masse von Locken auf dem weißen Leinen des Kissenbezugs. Sein Blick hielt überrascht auf ihren bandagierten Händen inne, dann zuckte er die Achseln. Für das, was er im Sinn hatte, würde sie ihre Hände nicht brauchen.
Er beugte sich über sie, seine großen, schweren Pranken und Finger so stark wie die seiner Tagelöhner. Jene Finger schlössen sich um Julianas Kehle und drückten zu.
Ihre Lider flogen auf; ihre Augen waren von Schlaftrunkenheit und Panik erfüllt, als sie mit den bandagierten Händen hilflos über die Finger tastete, die sie unbarmherzig würgten. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber es kam kein Laut heraus. Das musste der Erstickungstod sein, und ihr verwirrtes Hirn konnte nicht entscheiden, ob dies Wirklichkeit oder nur ein Alptraum war. Das Gesicht, das sich über sie beugte – so grimmig verzerrt, so voller Entschlossenheit – war ihr irgendwie vertraut und gleichzeitig fremd. Es sah aus wie eine Maske… eine Maske grauenhafter Bedrohung… eine abscheuliche Maske der Vernichtung.
Bitte, lieber Gott, mach, daß es nur ein Alptraum ist.
Aber sie konnte nicht atmen. Verzweifelt versuchte sie aufzuwachen, dieses Entsetzen abzuschütteln. Ihre Augen traten aus den Höhlen, ihre Sinne schwanden. Eine schwarze Woge schlug über ihr zusammen.
George löste seinen Griff, als Juliana schlaff in die Kissen zurückfiel und sich ihre Lider über ihren von Todesangst erfüllten Augen schlössen. Die Abdrücke seiner Finger zeichneten sich in der Dunkelheit als Schatten auf der weißen Haut ihrer Kehle ab. Prüfend legte er eine Hand auf ihre Lippen. Sie atmete noch, aber leicht und flach. Er zog ein dickes Tuch aus seiner Tasche, band es ihr um den Mund und verknotete es hinter dem Kopf. Dann schlug er die Bettdecke zurück und betrachtete die ohnmächtige Gestalt, musterte jede Kurve und Form ihres Körpers, die sich unter dem dünnen Nachthemd abzeichnete.
Schließlich riß er seine Blicke los, als er sich bewußt wurde, daß die Minuten verstrichen, und öffnete den Kleiderschrank. Er zog einen dicken Umhang heraus und wühlte dann in den Schubladen der Frisierkommode, bis er ein Paar Seidenstrümpfe gefunden hatte.
Über sie gebeugt, fesselte er ihre Beine mit einem der Strümpfe, zog ihre Arme vor ihren Körper und band ihre Handgelenke mit dem anderen zusammen; dann hüllte er ihre reglose Gestalt in den Umhang und zog ihr die Kapuze über den Kopf. Ihr Atem ging noch immer flach, aber regelmäßig. Mit einem Grunzen legte er sich Juliana über die Schulter, blickte sich ein letztes Mal im Zimmer um und eilte zur Tür. Seine Aufregung war so groß, daß es ihm schwerfiel, sich langsam und lautlos den verlassenen Korridor entlangzubewegen. Er rechnete
Weitere Kostenlose Bücher