Wilde Chrysantheme
entschuldigen Sie die Störung, Mylord, aber ein Bote hat gerade dieses Schreiben gebracht. Er sagt, die Angelegenheit ist von höchster Dringlichkeit.«
Tarquin runzelte die Stirn und griff nach dem versiegelten Kuvert. Er las den ungeschickt verfaßten, von Rechtschreibfehlern wimmelnden Inhalt, während sich sein Ausdruck verfinsterte. »Zur Hölle mit diesem degenerierten, lasterhaften Idioten!« Er zerknüllte den Brief und schleuderte ihn ins Feuer. »Lassen Sie meine Kutsche vorfahren.«
»Sie gehen aus, Mylord?« Catletts Blick schweifte zum Fenster, wo der Regen in Strömen an den Scheiben herabrann.
»Wie Sie meiner Anweisung unzweifelhaft entnehmen können«, schnauzte der Herzog. »Sagen Sie meinem Kammerdiener, er soll meinen Umhang und den Spazierstock bringen.«
Verdammter Lucien! Lag todkrank in einem
sponging house –
der Wohnung eines Gerichtsdieners, in der vorübergehend Schuldgefangene untergebracht wurden. Die Nachricht stammte von dem Wohnungseigentümer, vermutlich auf Luciens Drängen hin. Um seine Freilassung zu bewirken, musste erst eine Schuld von fünfhundert Pfund beglichen werden. Bis dahin lag Lucien ohne Medizin, Essen oder Decken in der klammen Feuchtigkeit und hustete sich die Lunge aus dem Leib.
Tarquin kam gar nicht auf die Idee, die Situation anzuzweifeln. Es war nicht das erste Mal, daß er seinen Cousin aus einer solchen Klemme befreien musste. Auch stand es natürlich nicht zur Debatte, Lucien seinem Schicksal zu überlassen, obwohl er ihn mit solchem Nachdruck vor die Tür gesetzt hatte. Er wußte genausogut wie Lucien, daß er seinem Cousin im äußersten Notfall immer zu Hilfe kommen würde. Ganz gleich, wie bösartig und verabscheuungswürdig Lucien auch geworden sein mochte, Tarquin konnte nicht einfach die Ketten der Verantwortung über Bord werfen.
Er schloß die Metallkassette in seinem Arbeitszimmer auf und entnahm ihr fünfhundert Pfund. Die Summe war nur ein winziger Teil von Luciens Gesamtschulden, deshalb hatte ihn vermutlich einer seiner unwichtigeren Gläubiger geschnappt. Ein Schneider oder Hutmacher oder dergleichen.
Sein Kammerdiener brachte ihm einen schweren, mit einer Pellerine versehenen Umhang und seinen Stockdegen. Tarquin klappte den hohen Kragen hoch, streifte die Handschuhe über und trat hinaus in das Unwetter. Der Kutscher fröstelte auf seinem Bock.
»Nach Ludgate Hill.« Tarquin sah den Mann nicht an, als er ihm die Anweisung gab und einstieg.
Eifrig ließ der Kutscher seine Peitsche knallen. Er war neu in den Diensten des Herzogs und wagte keinen Einspruch dagegen, mitten in einer solch ungemütlichen Nacht noch ausfahren zu müssen.
Nachdem die Kutsche um die Straßenecke verschwunden war, tauchten George und Lucien aus ihrem Versteck unter der Kellertreppe des gegenüberliegenden Hauses auf. »Elender Mist«, knurrte Lucien, während Wasser von der Krempe seines Hutes schwappte. »Warum muß es ausgerechnet heute nacht so gießen? Seit einem Monat hat es nicht mehr geregnet.«
George rannte über die Straße, den Kopf gegen die Sturzflut gesenkt, die sich vom Himmel ergoß. Er spürte den Regen kaum, denn das heiße Blut der Rache kochte in seinen Adern. Bald, sehr bald, würde er seine Genugtuung erhalten! Er eilte um die Seite des Hauses in eine Gasse, die in den Stallhof führte, und lehnte sich einen Moment keuchend an einen Pfosten.
Lucien erschien neben ihm, ein durchnäßtes Gespenst im Vergleich zu der massigen Körperfülle seines Komplizen. »Für das hier werden Sie mir noch mal fünfhundert Pfund hinblättern«, sagte er und hustete in seinen Ärmel.
George wies nur ungeduldig auf eine Seitentür. »Sind die Bediensteten noch auf?«
»Nicht um diese späte Stunde… es sei denn, Catlett schleicht wie immer herum.« Lucien spähte auf die Straße. »Der Nachtwächter wird in seinem Kabäuschen unter der Treppe sein, aber wir lassen uns auf keinen Fall in der Nähe der Vorderfront des Hauses blicken.«
»Was ist mit diesem Catlett?«
»Er wird in den Vorratskammern sein, wenn er nicht im Bett liegt. Ich kenne die Routine.« Lucien schob seinen Schlüssel ins Schloß, und die Tür schwang ohne das leiseste Quietschen auf. »Einen gut geführten Haushalt haben wir hier«, bemerkte er süffisant, als er den kleinen Vorraum betrat. »Und jetzt halten Sie die Klappe, und gehen Sie auf Zehenspitzen.«
Lucien öffnete eine weitere Tür, die den Blick auf eine schmale Treppe freigab. Es war stockfinster, in den Nischen
Weitere Kostenlose Bücher