Wilde Chrysantheme
jeden Moment damit, daß eine Tür auffliegen, ein zorniges Halt! an sein Ohr dringen würde. Aber er erreichte die Tür zur Hintertreppe ohne Zwischenfälle.
Behende glitt er in die Dunkelheit und zog die Tür leise hinter sich zu. Das Haus war in undurchdringliche Finsternis getaucht, und er hatte keinen Lucien bei sich, der ihn führte. Während sein Herz in seiner Brust hämmerte, seine Hände schlüpfrig vor Schweiß, wartete er, bis er sich genügend beruhigt hatte, um die steile, schmale Treppe hinunterzusteigen. Mit einer Hand tastete er sich an der Wand entlang, der andere Arm hielt seine Last umschlungen. Er konnte die Kurven ihres Körpers fühlen, den Duft ihres Haares und ihrer Haut riechen, ihren schwachen Atem in seinem Nacken spüren.
Am Fuß der Treppe stieß er eine weitere Tür auf und trat in den kleinen Vorraum. Der Seiteneingang stand einen Spaltbreit offen, und sein Herz tat einen freudigen Sprung. Jetzt trennte ihn nur noch eine Sekunde vom endgültigen Erfolg. Er schlüpfte durch die Tür und trat in die Gasse hinaus.
Ein schriller Pfiff ließ ihn zusammenfahren. Aber es war nur Lucien, der ihm vom Ende der Gasse her zuwinkte. George bewegte sich in einem schwerfälligen, holpernden Laufschritt auf ihn zu, wobei Julianas Kopf bei jedem Schritt gegen seinen Rücken schlug. Eine Droschke stand auf der Straße, Lucien saß bereits drinnen,vor Kälte und Nässe am ganzen Körper zitternd.
»Gottverdammt, ich werde mir noch eine Lungenentzündung bei diesem nächtlichen Unterfangen holen«, beklagte er sich, als George Juliana von seiner Schulter auf die Sitzbank gleiten ließ und hastig hinter ihr einstieg. Lucien musterte den reglosen, schlaffen Körper seiner Ehefrau mit einer Miene milder Neugier. »Was haben Sie mit ihr angestellt? Sie ist doch nicht tot, oder?«
George löste den Umhang und zog die Kapuze zurück. Julianas Kopf fiel auf die fleckigen Lederpolster. Lucien zog die Brauen hoch, als er den Knebel sah, dann beugte er sich vor und berührte leicht die Blutergüsse an ihrer Kehle, während er beiläufig bemerkte: »Du liebe Güte, Sie sind nicht sonderlich sanft mit ihr umgegangen, was, mein Bester?«
»Ich wollte nichts riskieren«, verteidigte sich George, der neben Lucien Platz genommen hatte, wo er sein Opfer im Auge behalten konnte, das bei jedem Ruck der Eisenräder auf dem Kopfsteinpflaster hilflos in den Polstern hin-und hertaumelte. Zufrieden strich er sich übers Kinn.
Luciens Zähne schlugen klappernd aufeinander, und er tastete nach der Cognacflasche in seiner Manteltasche. Mit einem heftigen Frösteln setzte er diese Arznei an die Lippen und kippte ihren Inhalt in seine Kehle. »Gott im Himmel, ist mir kalt!« Er trank erneut, verzweifelt darum bemüht, der eisigen Leere in seinem Körper Herr zu werden. Seine Hände und Füße waren taub, seine Finger bläulichweiß, als hätte sein Blut aufgehört, durch seine Adern zu strömen. Er fluchte lästerlich, als sein Atem in seiner Brust rasselte und er von einem fürchterlichen Hustenanfall geschüttelt wurde.
George hatte noch nie jemanden mit derartiger Heftigkeit husten sehen. Lucien tastete nach einem Taschentuch, preßte es sich vor den Mund, und Blut färbte den weißen Stoff dunkel. Instinktiv rückte Sir Ridge ein Stück von dem Mann ab, aus Angst vor einer möglichen Verseuchung durch Bazillen. Mit einem Griff in seine Tasche holte er ein Riechsalzfläschchen heraus.
Lucien fuhr fort zu husten, seine tief in die Höhlen gesackten Augen blutunterlaufen von der Anstrengung. Aber er beobachtete durch die Krämpfe, wie sein Gefährte das Fläschchen entkorkte, sich vorbeugte und es Juliana unter die Nase hielt.
»Wozu wecken Sie sie denn auf?« krächzte Lucien. »Warten Sie doch, bis wir da sind, Sie Idiot. Sie wollen doch wohl nicht, daß sie uns Schwierigkeiten macht?«
»Das wird sie nicht«, sagte George verdrießlich, aber er lehnte sich in die Polster zurück und verstaute die Riechsalzflasche wieder. Er wollte es erleben, wenn Juliana zu sich kam, wollte sehen, wie sie die Augen aufschlug, ihr ein Licht aufging. Ihr ohnmächtiger Blick würde auf ihn fallen, wenn sie die Fesseln um ihre Handgelenke und Knöchel fühlte, den Knebel in ihrem Mund. Aber er würde warten. Er drehte den Kopf, um in die finstere Nacht hinauszustarren, und so entging ihm der Moment, als Julianas Lider flatterten, sich öffneten und dann wieder zufielen.
Ihre Kehle schmerzte höllisch. Es war eine Qual zu schlukken. Sie
Weitere Kostenlose Bücher