Wilde Chrysantheme
Mund, daß sie ihn nicht mit den Fingern lösen konnte, und mit ihren gefesselten Händen konnte sie auch nicht den Knoten hinter ihrem Kopf erreichen. Die Seidenstrümpfe waren so fest um ihre Gelenke gebunden, daß sie in ihre Haut schnitten, und sie vermochte ihre bandagierten Hände nicht herauszuziehen.
Ihr Blick schweifte suchend durch den Raum und fiel auf den Streichriemen an der Wand neben dem Waschtisch, an dem Sir John sein Rasiermesser geschärft hatte. Wo ein Streichriemen war, befand sich gewöhnlich auch eine Klinge. Sie hüpfte zum Waschtisch. Das Rasiermesser lag neben der Schüssel und dem Wasserkrug, als ob es auf Sir John wartete, so wie an jedem Morgen seines Erwachsenenlebens. Seit seinem Tod war hier niemand mehr eingetreten.
Vorsichtig ergriff sie das Messer mit den Fingerspitzen und legte es aufrecht in die Halterung, mit der scharfen Seite nach oben. Sie schob die Hände vor, bis die Seidenstränge um ihre Handgelenke direkt über der Klinge waren, dann rieb sie das Material über die Schneide vor und zurück. Die Klinge war stumpf, doch Juliana hatte jetzt nicht die Geduld, um sie an dem Streichriemen scharf zu bekommen. Das Messer kippte um. Wieder balancierte sie es vorsichtig in der Halterung aus und hielt es mit der Spannung der Seidenschnüre aufrecht, setzte zu einem neuen Versuch an. Nach und nach begann die dünne, aber haltbare Seide auszufransen. Das Messer rutschte noch zweimal ab, als die Straffheit der Seide nachließ. Geduldig legte sie es wieder zurecht und säbelte weiter, während ihr Herz hämmerte und sie voller Angst auf das Geräusch etwaiger Schritte draußen horchte, das verräterische Knarren von Dielenbrettern. Ihre Kehle schmerzte so stark, daß sie nicht sicher war, ob sie überhaupt würde sprechen können, selbst wenn sie den Knebel los wäre. Dann zerrissen die Fesseln, und das Rasiermesser fiel klappernd zu Boden.
Juliana schüttelte ihre steifen Handgelenke und beugte und streckte ihre völlig verkrampften Finger. Dann mühte sie sich mit dem verknoteten Schal um ihren Kopf ab, bis es ihr schließlich gelang, den Knebel herauszuziehen. Wollfusseln klebten an ihren Lippen und ihrer Zunge und erinnerten sie lebhaft an Teds drastische Lektion über die Gefahren auf Londons Straßen. Im eigenen Bett zu schlafen scheint nicht weniger gefährlich als alles andere, dachte sie, als sie hastig mit dem Rasiermesser die Fesseln um ihre Fußgelenke durchtrennte.
Endlich frei! Ihre Schmerzen waren vergessen, als Erleichterung in ihr aufwallte. George hatte beim Hinausgehen natürlich den Schlüssel im Schloß umgedreht. Also rannte sie zum Fenster und spähte hinaus. Bis zu der weichen Erde des Blumenbeetes unter ihrem Fenster war es ein beträchtliches Stück. Aber die Efeuranken sahen recht zuverlässig aus. Ob sie ihr Gewicht tragen würden, blieb abzuwarten. Eine andere Wahl hatte sie nicht.
Sie schob das Fenster hoch. Der Wind blies kalt und feucht in den Raum, preßte das Nachthemd an ihren Körper, doch sie ignorierte die Kälte. Noch etwas benommen, schwang sie sich auf das Fensterbrett, ließ sich vorsichtig auf der anderen Seite hinunter und klammerte sich mit den Fingerspitzen an das Sims, ohne auf den Schmerz in ihren aufgerissenen Handflächen zu achten. Ihre Füße tasteten suchend nach einem Halt in dem Efeu. Fanden einen vorspringenden Backstein. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie eine Hand von dem Sims zog und sie hinunterbewegte, um eine Efeuranke zu packen. Sie hielt. Sie löste ihre andere Hand, und jetzt wurde ihr gesamtes Gewicht von der Ranke und dem winzigen Steinvorsprung gehalten. Hand über Hand kletterte sie langsam abwärts, während sie fühlte, wie sich die Ranken von dem Mauerwerk lösten. Aber es gelang ihr jedes Mal, einen anderen Halt für Hände und Füße zu finden, bevor das Astwerk unter der Last nachgab.
Da sie so intensiv auf ihre riskante Kletterpartie konzentriert war, hörte sie nicht das Geräusch stampfender Füße in dem Raum über sich. Aber dann drang Georges wütendes Gebrüll an ihr Ohr. Als sie hochblickte, sah sie sein zornrotes Gesicht auf sie herunterstarren. Hastig ließ sie die Ranken los und sprang die letzten drei Meter auf den Boden. Sie landete äußerst unglücklich und verstauchte sich das Fußgelenk. Ein oder zwei verhängnisvolle Minuten lang saß sie in der feuchten Erde des Beetes und keuchte vor Schmerz. Dann hörte sie wieder Georges Toben, diesmal etwas entfernter, und sie wusste, daß er
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