Wilde Chrysantheme
Obszönität und Fleisch«, fügte er hinzu. »Die beiden treten häufig zusammen auf.« Er wies mit seiner Peitsche nach vorn. »Die türkischen Badehäuser und die Saunen dort drüben machen glänzende Geschäfte mit Dampf und Schweiß… und sonstigem natürlich.«
Juliana wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Schweigend betrachtete sie das bunte Treiben auf dem Platz, ebenso gefesselt wie abgestoßen von der Szene.
»Die jungen Damen der Dennisons besuchen diesen Platz nicht. Sie werden sie eher bei Hofe antreffen als hier«, fuhr der Herzog fort. Juliana starrte neugierig auf ein Pärchen, das an der Wand eines der Badehäuser lehnte. Dann wandte sie abrupt den Blick ab, und eine verlegene Röte kroch über ihre Wangen.
»Ja, Privatsphäre ist keine sonderlich geschätzte Ware in dieser Gegend«, bemerkte ihr Gefährte. »Sie könnten dasselbe im St. James' Park nach Einbruch der Dunkelheit sehen… unter jedem Busch und Baum.«
Juliana erinnerte sich an Emmas Warnung, daß sie sich unter den Büschen im St. James' Park wiederfinden würde, wenn sie das Haus der Dennisons verließe. Eine Gänsehaut kroch ihr über den Rücken. Sie wollte den Herzog bitten, sie möglichst rasch von hier fortzubringen, aber sie ahnte, daß er ihr all dies absichtlich zeigte, und sie wollte ihm nicht den Anblick ihrer Bestürzung gönnen.
Danach bogen sie auf den Long Acre ein, und als sie sich St.-Martin-in-the-Fields näherten, ließ der Herzog die Pferde im Schrittempo gehen. Eine Gruppe zerlumpter Kinder hatte sich auf den Stufen vor dem Kirchenportal versammelt. Drei ältere Frauen umrundeten die Schar und begutachteten sie, wobei sie ihr besonderes Augenmerk auf die kleinen Mädchen richteten. Einige der Kinder wurden mit einer knappen Handbewegung entlassen; anderen bedeuteten die Frauen schweigend, zur Seite zu treten.
»Was tun sie dort?« Juliana konnte sich die Frage nicht verkneifen.
»Man stellt die Kinder für diverse Dienste ein… einige von ihnen kann man auch kaufen«, erklärte ihr Gefährte gleichmütig. »Die Bordellwirtinnen suchen diejenigen aus, die den speziellen Gelüsten ihrer Kunden entsprechen.«
Juliana verschränkte ihre Finger fest in ihrem Schoß und blickte starr geradeaus.
»Wenn sie ausgewählt werden, bekommen sie eine anständige Mahlzeit und verdienen ein paar Schilling«, fuhr der Herzog im selben gelassenen Tonfall fort. »Natürlich wird der größte Teil ihres Lohns an denjenigen gehen, der sie als Arbeitskraft verliehen hat.«
»Wie interessant, Mylord.« Juliana fand ihre Stimme wieder, als sie endlich den Sinn und Zweck dieser kleinen Rundfahrt durch Londons Unterwelt verstand. Wenn sie sich nicht sehr irrte, versuchte ihr der Herzog von Redmayne klarzumachen, wie das Leben für die Schutzlosen aussah.
Tarquin lenkte den Phaeton in Richtung The Strand. Er fuhr fort, Juliana mit informativem Geplauder zu unterhalten, als er sie durch den St. James' Park kutschierte und zum Piccadilly Circus; und Juliana war bald völlig absorbiert von den anderen Ansichten der Hauptstadt: den exklusiven Ladenfronten, den eleganten Stadtkutschen, den Reitern, den Sänften. Fein gekleidete Damen, die kleine Hunde im Arm trugen, flanierten die breiten Straßen entlang und begrüßten Bekannte mit schrillen Schreien des Entzückens und gezierten Wangenküssen. Sie wurden begleitet von gepuderten Lakaien in aufwendiger Livree und, in den meisten Fällen, von kleinen Pagen, die unter der Last von Hutschachteln, Päckchen und Paketen schwankten.
Allmählich begann Juliana sich wieder zu entspannen. Die Straßen in diesem Teil von London waren sauberer, der Gestank nach Jauche nicht ganz so durchdringend, die Gebäude hoch und elegant, mit Glasfenstern, die im Sonnenlicht schimmerten, glänzenden Messingtürklopfern und weißen, saubergescheuerten Stufen. Dies war das London, das sie sich damals in ihrem behüteten Zuhause in Hampshire sehnsüchtig ausgemalt hatte – beeindruckend und reich und voller eleganter Menschen.
Wenig später hielt der Herzog vor einem zweistöckigen Herrenhaus in der Albermarle Street. Die Eingangstür schwang augenblicklich auf, und der Pferdeknecht, den er in Covent Garden nach Hause geschickt hatte, kam die Stufen heruntergeeilt. Der Herzog schwang sich vom Kutschbock und streckte Juliana eine Hand entgegen.
»Sie werden sicherlich eine Erfrischung wünschen«, sagte er entgegenkommend.
Juliana rührte sich nicht. »Wo sind wir hier?«
»Dies ist mein Haus.
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