Wilde Flucht
Starren gab er einmal mehr nach.
» Aber das muss der Letzte sein, Charlie. Sonst steige ich aus. Und das kannst du unseren Auftraggebern sagen. Mehr geht nicht!« Der Alte stieß die letzten Worte geradezu hervor.
Charlie Tibbs schwieg.
» Wohin müssen wir also fahren, wenn wir mit dem Anwalt fertig sind? Wer ist das Opfer?«
Charlie zögerte. Der Alte wusste, warum: Mit seiner Frage verletzte er ihre Vereinbarung, stets nur die Details des nächsten Anschlags zu bereden. Und diese Vereinbarung war vermutlich eine gute Idee gewesen, wie der Alte einräumte, denn er wäre nicht so lange dabeigeblieben, wenn er gewusst hätte, wie weitreichend und verschlungen ihre Mission werden würde. Der Alte wünschte, stärker und sich selbst und ihrer Sache sicherer zu sein – so wie Charlie.
Der sah rasch nach links und rechts, ehe er redete, und beugte sich vor, bis seine Hutkrempe den Zaun berührte.
» Es gehört nicht zu unseren Aufgaben, unsere Mission in Frage zu stellen«, raunzte er. » Wir wissen nicht, warum diese Opfer ausgewählt wurden, und das ist gut so. Wir wissen nur, dass es sich um eine wohldurchdachte Maßnahme handelt und dass unsere Auftraggeber alles ausgearbeitet haben. Wir führen nur Befehle aus.«
» Niemand stellt etwas in Frage«, erwiderte der Alte bedächtig und überlegte, warum Charlie so defensiv wirkte.
Charlie musterte den Alten erneut, und die hellblauen Augen fuhren wie Krallen über sein Gesicht.
» Wir fahren nach Saddlestring, Wyoming«, sagte Charlie, und seine Stimme war wegen des schrillen Lärms aus dem Schwimmbad nebenan kaum hörbar. » Die Gerüchte über Stewie Woods wollen einfach nicht verstummen. Jetzt heißt es, er – oder jemand, der sich für ihn ausgibt – nehme Verbindung zu seinen alten Mitstreitern auf.«
Der Alte spürte Ärger in sich aufsteigen. » Das ist unmöglich. Du weißt, dass es unmöglich ist.«
Charlie nickte. » Wahrscheinlich versucht einer seiner Anhänger etwas auf die Beine zu stellen. Aber wir müssen das prüfen.«
» Es ist unmöglich«, sagte der Alte erneut, schüttelte den Kopf und versuchte vergeblich, sich ein Szenario vorzustellen, bei dem Woods die Explosion hätte überleben und davonkommen können.
» Und da ist noch was«, sagte Charlie. » Weil dieser Kerl – wer immer es ist – behauptet, Stewie Woods zu sein, schnüffelt der Jagdaufseher von Saddlestring herum. Weitere Ordnungshüter könnten folgen. Das sind Probleme, die wir nicht gebrauchen können. Also müssen wir diesen Hochstapler schnellstmöglich zerquetschen.«
» Haben sie schon eine Ahnung, wer der Hochstapler ist?«, fragte der Alte.
» Noch nicht«, gab Charlie zurück und kniff die Augen zusammen. » Aber sie rechnen damit, es bald zu wissen.«
Zweiter Teil
Anfang April 1887 kamen einige Jungs aus dem Pleasant Valley, wo ein großer Kampf gegen Viehdiebe tobte, die die Oberhand zu erlangen drohten … Die Lage war ernst. Cowboys und Viehdiebe rangen bis zum Letzten miteinander, und jedes Mal, wenn sie zusammenstießen, kam es zum Kampf. Viele kamen in diesem Krieg um.
Auszug aus Tom Horn: Mein Leben als
Dolmetscher und als Kundschafter im
Regierungsauftrag
18
Die Wapitis hatten vor einem Monat gekalbt, und Joe Pickett machte sich an eine vorläufige Schätzung des Nachwuchses, um festzustellen, wie gut der Bestand durch den Winter gekommen war und wie viele Jungtiere ihn ergänzen würden. Die Kälber kamen in der Regel zwischen dem 20. Mai und dem 30. Juni zur Welt – inzwischen sollte es also keinen Zuwachs mehr geben. Auf seiner Buckskin-Stute Lizzie ritt er am Waldrand entlang und hielt den Hang hinab auf Wiesen und im Gebüsch nach Wapitis Ausschau. Es war ein leuchtender Julimorgen von seltener Herrlichkeit – voller Düfte und beinahe flirrender Farben. Wildblumen erblühten auf den Wiesen in stummem Feuerwerk, Schösslinge, die sich vor kurzem erst durch den Schnee gearbeitet hatten, wuchsen der Sonne entgegen, und schmale Bäche waren vom Schmelzwasser mächtig angeschwollen. Der Sommer war gekommen, und zwar mit Macht.
Die Wapitikühe nutzten das hohe Salbeigesträuch gleich unterhalb des Waldes zum Kalben, und Joe hatte bisher sieben Muttertiere und sechs einmonatige Junge gefunden. Der recht milde Winter und das feuchte Frühjahr hatten den Wapitis gute Bedingungen geboten. Joe hatte den eigenartigen, ziemlich modrigen Geruch schon in der Nase, ehe er die erste Kuh mit ihrem Kalb entdeckte. Die Mütter beäugten ihn misstrauisch,
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