Wilde Flucht
als er im Schatten der Bäume ruhig vorbeiritt. Eine wollte ihn von ihrem Kalb weglocken, trat dafür auf die Wiese und trabte durchs Gras zum gegenüberliegenden Hang. Ohne jede Deckung blieb sie stehen, blickte sich um und schnaubte, als Joe ihr nicht folgte, sondern ungerührt weiterritt. Ihr Kalb sah ihn durch eine Öffnung im hohen Gebüsch an. Es war ganz Auge und Ohr, und Joe war nah genug, um eine Tauperle auf der schwarzen Schnauze zu erkennen.
Er ritt tiefer in den Wald hinein und ein wenig den Hang hinauf, bis die Kuh wieder zu ihrem Kalb zurückkehrte. Er stieß Lizzie in die Flanken und ließ sie durch die Bäume zu einer kleinen, besonnten Lichtung gehen. Dort saß er ab, band das Pferd an, setzte sich auf einen umgestürzten Baum, streckte sich und ließ sich von der Sonne die Beine wärmen. Dann schenkte er sich aus seiner ramponierten Thermoskanne einen Becher Kaffee ein, klappte die Hutkrempe hoch und seufzte. Der Kaffee war noch heiß.
Joe hatte das echte Nachdenken aufgeschoben, bis er in den Bergen war, denn er hoffte, der stille Trost der freien Natur werde ihm helfen, die ersehnten Antworten zu finden. Nun ließ er sich die seltsame Ereigniskette durch den Kopf gehen, die damit begonnen hatte, dass Jim Finotta den Präparator Sandvick unter Druck gesetzt und Richter Pennock sich geweigert hatte, auf Joes Anzeige hin gegen den Anwalt tätig zu werden.
Richter Cohn in Johnson County hatte sich widerwillig bereiterklärt, die Anzeige gegen Finotta erneut zu prüfen, hatte bis jetzt aber keine Maßnahmen ergriffen. Vermutlich würden die Anzeige und damit die ganze Sache im Nichts versanden. Am Vortag hatte Robey Hersig bei Joe angerufen und ihm gesagt, Richter Pennock sei wütend auf sie beide, weil sie den Fall an den Richter eines anderen Bezirks geleitet hatten. Hersig berichtete, Finotta telefoniere wie wild von seinem Anwaltsbüro in Saddlestring aus mit dem Büro des Gouverneurs in Cheyenne. Joe wurde vorgeworfen, einen Rachefeldzug gegen Finotta eröffnet zu haben. Worte wie » Belästigung«, » Eigentümerbeschimpfung« und » bürokratische Arroganz« waren gefallen. Joe wusste, dass sich der Direktor der Jagd- und Fischereibehörde bald bei ihm melden würde. Er konnte sich die heimlichen Besprechungen und das verstohlene Händeringen vorstellen, die sein Tun dort mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgelöst hatten. Wenn sich der Gouverneur – wie zu vermuten war – mit der Sache befasst hatte, würde die Sache dem Direktor umgehend zur Kenntnis gebracht werden. Es wäre nicht das erste und wohl auch nicht das letzte Mal, dass Joe Schwierigkeiten bekäme. Sollten die Jungs in der Zentrale in Cheyenne sich entschließen, ihn zu verwarnen, so würden sie es hoffentlich geradeheraus tun, doch das war manchmal zu viel erwartet.
Gäbe es nicht bisweilen einen solchen Morgen an einem solchen Ort, dann könnten sie meinen Job haben, dachte Joe.
Er kam zu dem Schluss, einfach nicht dafür geschaffen zu sein, Ermittlungen fallenzulassen. Wapitis waren keine gefährdete Art; allein in Wyoming lebten Zehntausende von ihnen – vermutlich mehr, als für das Land gut war. Und täglich kamen Wapitis durch Autos, Krankheiten und Raubtiere ums Leben. Jäger schossen jeden Herbst Tausende ab, und jedes Frühjahr traten Tausende an ihre Stelle.
Aber ein mächtiger Hirsch war außerhalb der Jagdzeit von einem Mann getötet worden, der nur seinen Kopf an der Wand hängen haben wollte. Der mächtige Kadaver des Tieres – über dreihundert Kilo Fleisch! – dagegen war an Ort und Stelle verrottet. Und niemand schien darüber so empört wie Joe Pickett. Aus Gründen, die er kaum benennen konnte, hatte er dieses Verbrechen persönlich genommen.
Es ging nicht darum, dass Finotta ein schwerreicher Anwalt, Rancher oder Bauunternehmer war. Joe hegte gegen erfolgreiche Menschen keinen Groll. Was ihn empörte, war die Beiläufigkeit, mit der das Verbrechen verübt worden war – und Finottas Reaktion, als er der Tat bezichtigt wurde.
Die meisten Wilderer stritten das Verbrechen ab, wenn Joe sie zur Rede stellte. Finotta aber log so verächtlich und überheblich, als sei es unter seiner Würde, seine guten, wertvollen Lügen an einen wie Joe verschwenden zu müssen. Jim Finotta brauchte eine Jagdtrophäe nur, um Gäste zu beeindrucken und sein Selbstwertgefühl zu steigern. Anders als viele Wilderer und Jäger brauchte er das Fleisch sicherlich nicht, doch statt es zu verschenken oder einer
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