Wilde Flucht
sich um und sah die zehnjährige Sheridan, die fünfjährige Lucy und ihre achtjährige Pflegetochter April aus dem hinteren Hoftor durchs Gras gelaufen kommen. Sheridan trug das schnurlose Telefon wie das olympische Feuer vor sich her, und die anderen Mädchen folgten ihr.
» Dad, für dich«, rief Sheridan. » Ein Mann sagt, es sei sehr wichtig.«
Joe und Marybeth tauschten einen Blick, und Joe nahm den Hörer. Es war Bezirkssheriff O.R. » Bud« Barnum.
Es habe eine enorme Explosion im Bighorn Nationalforst gegeben, teilte er Joe mit. Ein Feuerwächter habe sie gemeldet und berichtet, er habe mit dem Fernglas zwischen den Bäumen überall dicke dunkle Umrisse liegen sehen. Vermutlich seien jede Menge Tiere tot, und darum rufe er Joe an – totes Wild falle schließlich in seine Zuständigkeit, und vorläufig würden sie davon ausgehen, dass es sich um Wild handele, aber es könnten natürlich auch Rinder sein, denn einige Rancher hätten das Recht gepachtet, ihre Tiere dort oben weiden zu lassen. Barnum fragte, ob Joe ihn in zwanzig Minuten an der Autobahnausfahrt Winchester treffen könne. So würden sie es an den Ort des Ereignisses schaffen, ehe es völlig dunkel sei.
Joe gab Sheridan den Hörer zurück und blickte sich zu Marybeth um.
» Wann kommst du zurück?«, fragte sie.
» Spät«, erwiderte er. » In den Bergen gab es eine Explosion.«
» Meinst du etwa einen Flugzeugabsturz?«
» Das hat er nicht gesagt. Die Explosion hat sich ein paar Kilometer von der Hazelton Road entfernt ereignet – in einer Gegend, in der viele Wapitis leben. Barnum denkt, es sei womöglich einiges Wild getötet worden.«
Marybeth sah Joe in Erwartung weiterer Erklärungen an. Er zuckte die Achseln, um ihr zu zeigen, dass er nicht mehr wusste.
» Ich stell dir dein Abendessen warm.«
Joe traf den Sheriff und seinen Stellvertreter McLanahan an der Ausfahrt nach Winchester und folgte ihnen durch den Ort. Die drei Autos – zwei Chevrolet Blazer (Dienstwagen des Bezirks) und Joes dunkelgrüner Pick-up von der Jagd- und Fischereibehörde – durchquerten die Kleinstadt binnen weniger Minuten. Obwohl es erst früh am Abend war, hatten nur noch zwei Bars, vor deren Fenstern die gleiche neonbeleuchtete Bierreklame hing, und ein Lebensmittelladen geöffnet. Winchesters einzige Kunst im öffentlichen Raum befand sich auf dem Rasen vor der Bankfiliale: die überdimensionierte und schaurige Metallskulptur eines verwundeten Grizzlybären, der an einer dicken Kette zog und dessen Bein in einer so gewaltigen wie gezähnten Bärenfalle steckte. Joe mochte die Plastik nicht, doch sie erfasste Selbstverständnis, Stil und ungebrochene Pioniermentalität dieser Gegend so gut wie nur möglich.
Hilfssheriff McLanahan ging in die Richtung durch den Wald voran, aus der die Explosion gekommen sein sollte, und Joe folgte ihm mit Sheriff Barnum. Joe und McLanahan hatten sich mit einem knappen Nicken begrüßt und geschwiegen. Ihr Verhältnis war getrübt, seit der Hilfssheriff zwei Jahre zuvor das Zeltlager einiger Jagdausrüster unter Beschuss genommen und ein verirrtes Schrotkügelchen Joe unterm Auge getroffen hatte. Noch immer hatte er dort eine Narbe.
Barnums niedergeschlagenes Gesicht verzog sich, als er neben Joe durchs Unterholz humpelte. Er jammerte über seine Hüfte. Er jammerte über die Entfernung von der Straße zum Tatort. Er jammerte über McLanahan und sagte leise zu Joe, er hätte den Hilfssheriff schon vor Jahren rauswerfen sollen und das auch längst getan, wenn der nicht sein Neffe wäre. Joe argwöhnte allerdings, Barnum habe McLanahan auch darum nicht entlassen, weil dessen Ruf als rascher Schütze dem Sheriffbüro – so unzutreffend und unglaublich das war – eine Aura von Härte gab, die zur Wahlzeit nicht schadete.
Unterdessen war die Sonne hinter den Bergen versunken, und die Gipfel waren nur noch zerklüftete schwarze Umrisse. Im Wald wurde es immer finsterer, und die Baumkronen und Äste, die eben noch zu unterscheiden gewesen waren, verschmolzen zu einem dunklen Einerlei. Joe prüfte mit einem Griff an den Gürtel, ob er die Taschenlampe dabeihatte, und strich mit dem Unterarm auch über seinen .357er Smith & Wesson-Revolver. Barnum sollte diese Bewegung nicht bemerken, weil er Joe noch immer damit neckte, dass der Jagdaufseher seine Waffe bei einer Festnahme mal an einen Wilderer verloren hatte.
Von Barnums Gejammer abgesehen, war es im Wald ungewöhnlich still. Das Fehlen der üblichen Geräusche – von
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