Wilde Flucht
Kumuluswolken fuchsienrot leuchten.
Sie waren noch immer im Hochwald unterhalb des Grats. Joe hatte nach einem natürlichen Unterschlupf gesucht, aber keine Höhle, keinen Felsüberhang, nicht mal das Wurzelwerk eines umgestürzten Baums ausfindig gemacht, in dessen Schutz sie sich zu dritt hätten legen können. Es dunkelte, doch es gab kein Zeichen von Gewitterwolken, deshalb hoffte er, dass es nicht regnen würde. Die Temperatur war bei Sonnenuntergang rasch gefallen. In solcher Höhe schwankte sie im Laufe des Tages erheblich. Joe nahm an, dass es am Nachmittag etwa siebenundzwanzig Grad warm gewesen war, und er ging davon aus, dass es bis zur Morgendämmerung auf fünf Grad abkühlte.
Nach seiner Schätzung waren sie nur acht Kilometer von der Hütte entfernt. Weiter waren sie nicht gekommen, obwohl sie den ganzen Nachmittag über geklettert, gewandert und bei ausgesprochen rauem Terrain auch mühsam gekrochen waren.
Der Ort, den sie für ihre Rast gewählt hatten, hatte seine Vorteile. Er war dem Grat nah genug, um über den Rand ins Tal zu spähen. Da sie auf der anderen Seite des zweiten Höhenzugs waren, konnte Tibbs ihr Lager nicht sehen, wenn er die Gegend mit seinem Spektiv absuchte. Es gab Wasser in der Nähe, und der Hang, der ihnen nun bevorstand, war nicht annähernd so schwer zu bewältigen wie seine Vorgänger. Sollte Tibbs plötzlich auftauchen, konnten sie in den Wald flüchten und ziemlich rasch hangabwärts gelangen. Und sollte – so unwahrscheinlich es war – ein Hubschrauber losgeschickt worden sein, konnten sie aus der Deckung hetzen, um aus der Luft gesehen zu werden.
Joe lag direkt am Grat auf dem noch warmen Schiefer und inspizierte durchs Fernglas den ersten Höhenzug und das Tal unter ihnen. Je finsterer es wurde, desto weicher schien der Wald zu werden. Wer das Land bei diesem Licht sah, konnte nicht ahnen, wie rau und zerklüftet es unter dem dunkelnden Samtgrün der Baumkronen war.
Joe hielt nach Bewegung Ausschau und horchte in der einschüchternd weihevollen Stille auf Geräusche. Zwar erwartete er nicht, Charlie Tibbs dreist über eine Lichtung reiten zu sehen, doch womöglich würde er Rot- oder Federwild aufschrecken und dadurch seine Position verraten. Falls er überhaupt da draußen war.
Joe drehte sich nicht um, als das Knirschen schwerer Schritte ihm verriet, dass Stewie sich zu ihm gesellte.
» Irgendwas zu sehen?«, fragte Stewie und ließ sich ächzend auf dem Schiefer nieder.
» Bäume.«
» Britney hat schlechte Laune. Da hab ich gedacht, ich setz mich zu Ihnen. Sie hat sich Cobles Blut aus dem Hemd waschen wollen, aber nicht alles wegbekommen.«
» Mmmh.«
» Verdammt schön hier, was?«
» Ja.«
» Reden Sie eigentlich auch mal?«
Joe senkte kurz das Fernglas. » Mit meiner Frau.« Dann setzte er warnend hinzu: » Aber nicht über meine Frau.«
Stewie nickte, lächelte und schaute weg.
» Haben Sie sich nicht gefragt, wie ich das überleben konnte?« Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. » Immerhin hat mich ein Rind in die Luft gejagt.«
» Darüber habe ich mich allerdings gewundert.«
» Aber Sie haben mich nicht gefragt.«
» Ich war beschäftigt.«
» Es ist eine tolle Geschichte. Und schrecklich ist sie auch. Haben Sie einen Moment Zeit?«
Joe lächelte zu seiner eigenen Überraschung. Hab ich einen Moment Zeit?
» Die Wucht der Explosion hat Sie an einen Ast gespießt«, sagte er. » Ich hab ihn gesehen. Ich bin sogar auf den Baum geklettert, um ihn in Augenschein zu nehmen.«
Stewie nickte. » Dort hat es angefangen.«
Er lebte …
… oder er war doch in einem Zustand, der dem Lebendigsein ähnelte, aber auf denkbar schlimmste Weise. Er konnte Dinge sehen und Bewegungen erfassen. Vorstellungen trieben wie warmer Schlamm durch sein Hirn, und dieser Schlamm hatte sich seines Bewusstseins bemächtigt. Er stellte sich vor, sein Leben hänge an einer dünnen blauen Schnur oder Ader, an einem stramm gespannten, nassen Seil, das einer Sehne seltsam ähnelte.
Er dachte, die Sehne könne reißen und das Licht löschen, und sein Tod werde mit einem schweren Dröhnen kommen, als falle ein nasses Leinenbündel aufs Pflaster. Etwas in ihm, das dennoch außerhalb seiner Kontrolle lag, arbeitete wie verrückt, um ihn am Leben und die Dinge am Laufen zu halten und die Sehne nicht reißen zu lassen. Falls dieser Impuls aber seinerseits den Antrieb verlöre, würde er die Erleichterung begrüßen und willkommen heißen, was immer dann
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