Wilde Flucht
Crump versicherte Marybeth ihr Verständnis.
Die Gentlemanrancher – verwöhnte Söhne von Industriellen, Reedern und Bankiers aus Europa, New York und Boston – waren zusammengekommen und bei Brandy und Zigarren zu dem Schluss gelangt, die Behörden vor Ort seien zu dumm, zu inkompetent und mit Viehdieben und Siedlern zu eng verbunden, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Um den Status quo und das Konzept des freien Weidelandes zu erhalten, war ein berechnender Killer von außen nötig, der ausschließlich ihre Anweisungen erfüllte.
So kam Tom Horn ins Spiel, den ein Verbindungsmann, der die Übrigen nicht direkt belasten konnte, beauftragte, die Angelegenheit zu übernehmen.
Die Viehdiebe waren Kriminelle, wurden aber – wie die Rancher fanden – von den Leuten nicht mit der verdienten Verachtung gestraft. Oft wurden sie als unerschrockene » Cowboygauner«, ja als die letzten Pioniere dargestellt. Die Siedler, die Baracken errichteten – oder sogar wie Nagetiere bloße Baue im Boden anlegten – und die offenen Weidegründe einzäunten, galten als raue Individualisten. Die allgemeine Abneigung gegen die Gentlemanrancher nahm stetig zu. Die Einheimischen unterschieden die Rancher, die vor Ort auf ihrem Land lebten und es mit den Elementen und den Märkten aufnahmen, von den Gentlemanranchern in Cheyenne, die ihre Geschäfte bei feinen Speisen und Spirituosen regelten, die täglich mit den Zügen der Union Pacific geliefert wurden.
Also fingen die Gentlemanrancher einen kleinen Krieg an. Und sie waren erfolgreich, jedenfalls für einige Zeit.
Marybeth senkte das Buch, und ihr Blick brannte ein Loch in die Uhr über dem Herd. Es war halb sieben, und langsam wuchsen Schatten über die Straße zum Wolf Mountain. Joe hatte nicht angerufen. Und Trey Crump auch nicht.
Vielleicht ist es das, was Ginger Finotta mir hat sagen wollen, überlegte Marybeth. Vielleicht ziehen die Rancher wieder in den Krieg.
Sie zog den Umschlag aus der Tasche. Er konnte alles Mögliche enthalten – etwa die Frage, wo eine Jagderlaubnis zu bekommen war. In den Rocky Mountains hielten die Leute alles für » Wichtig«, was mit der Jagd zu tun hatte. So wie Rancher der Ansicht waren, alles, was mit ihrem Land zu tun hatte, sei wichtig.
Sie riss den Umschlag auf, zog ein gefaltetes Blatt heraus und las die zittrige Schrift.
» O mein Gott«, entfuhr es ihr.
» Mom, was gibt’s?«, rief Sheridan von nebenan.
Dritter Teil
Ich bin kein Prophet. Ich vermute, der Konflikt zwischen Bewahrung und Entwicklung wird angesichts des Bevölkerungswachstums und der wirtschaftlichen Erfordernisse von Jahr zu Jahr stärker werden. Das ist alles, was ich vorhersagen kann: eine Zunahme von Konflikten.
Edward Abbey, Verfasser von Die Schrauben-
schlüsselbande , bei einem Interview im
amerikanischen Kulturradio NPR, 1983
28
Die Hütte im Rücken, erstiegen Joe Pickett, Stewie Woods und Britney Earthshare den ersten Höhenzug. Joe führte sie an, blieb im Wald und entdeckte schließlich einen Wildwechsel, der in Serpentinen bis nach oben führte. Beim steilen Abstieg auf der anderen Seite gerieten sie in knorriges, fast undurchdringliches Unterholz, durch das sie mehr krochen als gingen. Mitunter wichen sie – um einen Weg durch den Wald zu finden – mehr nach links oder rechts aus, als dass sie sich von der Hütte entfernten.
Das Gewehrfeuer erklang nun seltener. Joe sah auf seine Uhr. Von Schuss zu Schuss vergingen jetzt drei bis fünf Minuten. Dann hörte das Schießen ganz auf.
Endlich erreichten sie den Talgrund. Inzwischen dachte Joe über die Wahrscheinlichkeit nach, dass sie verfolgt wurden. Zwar war das Unterholz für ein Pferd ein ebenso schwieriges Terrain wie für sie, doch offenkundig gab es für sie nur eine Fluchtrichtung: hangabwärts. Es wäre unsinnig, die Hütte im Bogen zu umgehen oder sich zur Straße zurückzuarbeiten, wo sie gesehen werden mochten. Sich schnellstens so weit wie möglich zu entfernen, das erschien Joe als die beste Strategie.
Stewie schlug sich angesichts der Umstände und des anstrengenden Kletterns bemerkenswert gut. Als sie durch den Wald krochen, redete er ununterbrochen und erzählte Joe, was John Coble ihnen darüber berichtet hatte, mit Charlie Tibbs das Rind mit Sprengstoff präpariert zu haben, und wie langweilig es sei, auf der Flucht zu sein.
» Im Film wären wir in der Hütte geblieben, hätten einen Plan ausgeheckt und ihm Fallen gestellt«, überlegte Stewie. » Wir hätten eine
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