Wilde Flucht
das Sternenlicht verschluckte. Joe nahm den Finger vorsichtig vom Abzug. Das Wapiti bewegte sich durch den Wald, bis es außer Sicht war. Joe fiel der vertraute, moschusartige Geruch auf.
Dann schien etwas im Dunkeln entzweizubrechen, und es sah aus, als würden sich die Bäume selbst bewegen, denn ihre bleichen Stämme leuchteten abwechselnd hell und dunkel, hell und dunkel. Joe erkannte plötzlich, dass sich nicht die Bäume bewegten, sondern Dutzende von Wapitis über den Berg strömten. Sie zogen stetig dahin, und ihre Hufe schlugen einen Rhythmus. Die Tiere waren nun ringsum und streiften durch ihr Lager wie ein Heer von Geistern. Mit rund einem Meter zwanzig Schulterhöhe folgten einige mächtige Bullen der Herde. Ihre schimmernden Augen warfen das Mondlicht zurück, und Joe hörte ihre mächtigen Geweihe mit hölzernem Klang an niedrige Äste stoßen.
Dann waren sie verschwunden. Joe hatte die letzte Kuh, das letzte Kalb, den letzten Bullen nicht vorbeiziehen sehen – er spürte vielmehr eine Art Vakuum, eine Leere zwischen den Bäumen, wo eben noch viele Tiere gewesen waren.
Langsam stand er auf und ließ dabei die Hand mit der Waffe sinken. Vorsichtig sicherte er die Pistole wieder. Stewie war jetzt wach und setzte sich auf. Britney rieb sich die Augen.
Doch es war nicht vorbei, da er erneut die Anwesenheit von Tieren spürte, diesmal flink und nah am Boden. Schatten zogen genauso schnell, aber verstohlen den Wapitis durch den Wald nach. Ihre Bewegungen waren fließend. Er blinzelte und horchte, und seine Sinne schmerzten fast, da er sie so sehr anspannte. Er sah langes, schwarzsilbernes Fell aufblitzen und zwei große Hundeaugen für eine halbe Sekunde den Mond spiegeln.
Wölfe! Es war ein kleines Rudel, höchstens fünf Tiere. Sie folgten den Wapitis, um ein Kalb oder einen Nachzügler zu reißen.
Und sie verschwanden so rasch, wie sie gekommen waren.
Wartend stand Joe da und fragte sich beinahe unsinnig, was als Nächstes passieren würde. Nichts geschah. Er sah auf seine Armbanduhr: erst Viertel nach zehn.
» Hier soll es doch gar keine Wölfe geben«, sagte Joe.
» Vielleicht sind es Emilys Wölfe«, gab Stewie zurück und lächelte so breit, dass Joe seine Zähne im Sternenlicht sehen konnte.
Er schob den Revolver wieder ins Holster und ging das kurze Stück zum Grat hinauf. Das Land ringsum war nicht auszumachen, denn alle Berge waren gleichermaßen schwarz. Es gab nur den Horizont und die Sterne.
Charlie Tibbs – das wusste er – war dort draußen und kam näher und näher.
Joe dachte daran, wie seine Kinder beim Abschied am Morgen ausgesehen hatten. April und Lucy waren albern und ausgelassen gewesen und hatten munter geplappert und dabei auf den Bus gewartet, der sie ins Wochenendlager der Kirche bringen sollte. Lucy hatte ein rosafarbenes Sweatshirt mit passenden Socken getragen, dazu eine kurze Jeans und blaue, stumpfnasige Tennisschuhe. April hatte ein türkisfarbenes Sweatshirt und eine Jeans angehabt. Ihre Gesichter waren erwartungsfroh und morgenfrisch gewesen, ihre Augen hatten geglänzt, und ihr Haar hatte sommerblond geleuchtet.
Sheridan hatte sich von ihnen ferngehalten, nach der Abreise der jüngeren Mädchen aber den Fernseher und das Haus in Beschlag genommen. In ärmellosem Hemd und Jeans begann sie, ihrer Mutter zu ähneln und der Kindheit zu entwachsen. Sheridan, die so vieles hatte durchstehen müssen und alles prima überstanden hatte.
Und dann war da Marybeth.
» Hilf mir, Marybeth«, flüsterte er.
30
Die Stockman-Bar in Saddlestring war dämmerig und verraucht, und Marybeth trug ihre Entschlossenheit wie eine unsichtbare Rüstung. Als sie die Tür hinter sich schloss und die Szene der an diesem Samstagabend dort Versammelten musterte, sah sie die Notwendigkeit ihrer Rüstung bestätigt.
Rancharbeiter, Mechaniker, Angelführer und verbitterte Geschiedene bevölkerten den Tresen, und in ihrem Rücken lagen dunkle Nischen. An den Wänden hingen ausgeblichene Rodeofotos in Schwarz-weiß und die Brandzeichen der hiesigen Rancher. Die lackierten Deckenbalken und Stützpfosten waren aus verzogenem, knotigem Kiefernholz. Im hinteren Teil des langen, schmalen Raums warfen niedrig hängende Lampen ihre Lichtkreise auf drei grün bespannte Billardtische. Einzelne Kugeln leuchteten in abstrakter geometrischer Anordnung im Lampenlicht. Mit Stetson oder verkehrt herum aufgesetzter Baseballkappe ausgerüstete Experten in der Kunst, acht Bälle einzulochen, nippten
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