Wilde Rosen: Roman (German Edition)
sich zu ihm um. »Es ist nicht mein Leben, das mich blockiert. Es ist das beschissene Weihnachtsfest!« Und zu ihrer grenzenlosen Beschämung brach sie in Tränen aus.
Leo sah geduldig zu, während Harriet sich ein Stück von der Küchenrolle holte, die sie kürzlich in sein Leben gebracht hatte, und sich die Nase putzte.
Harriet war dankbar, daß er nicht versucht hatte, sie in die Arme zu nehmen, und tupfte sich die Augen. »Entschuldigung. Ich weiß nicht, warum ich so die Fassung verloren habe.«
»Vermutlich wegen Ihrer ungewöhnlich vulgären Ausdrucksweise.«
»Blödsinn! Ich fluche vielleicht nicht oft, aber wenn ich es tue, dann weil es mir ernst damit ist.«
»Und warum bringt Weihnachten Sie in Fluchlaune?«
»Weil ich nicht mit meinem Sohn zusammensein werde. Zum ersten Mal. Er ist zehn. Derzeit ist er im Internat. Das Halbjahr ist fast um, und er wird über Weihnachten nach Hause zu meinen Großeltern fahren. Ich werd’ ihn vermutlich nicht wiedersehen, bis die Ferien zu Ende sind.«
Ihren Kummer in säuberliche, kurze Sätze zu zerteilen, hätte ihn eigentlich überschaubar machen sollen. Aber der Gedanke an Weihnachten ohne Matthew war immer noch unerträglich.
»Warum können Sie ihn nicht sehen?«
»Weil ich von zu Hause weggelaufen bin. Von meinen Großeltern. Sie haben sich mein ganzes Leben um mich gekümmert, aber sie haben mich furchtbar unterdrückt und eingeschränkt. Ich konnte nicht länger bei ihnen leben, nachdem sie Matthew auf die Schule geschickt hatten.«
»Also, somit können wir die Lebensgeschichte abhaken. Jetzt müssen wir nur noch das Happy-End fabrizieren.«
Harriet lächelte tapfer. »Es gibt kein Happy-End. Ich bin stur, meine Großeltern sind stur, sogar Matthew ist manchmal stur. Vielleicht würden sie mich wieder aufnehmen, wenn ich sie um Verzeihung bitten würde für meine Undankbarkeit, aber dann wäre Matthew immer noch im Internat. Und ich könnte jetzt auch nicht mehr bei ihnen leben.«
»Das heißt aber nicht, daß die Situation unabänderlich ist. Wann fangen Matthews Ferien an?«
Harriet sagte es ihm.
»Dann sollten wir so bald wie möglich hinfahren.«
Harriet wollte protestieren, ihm danken, zusammenhängend reden. Nichts davon gelang. Erst als sie mehrere weitere Stücke Küchenrolle durchweicht hatte und ihre Nase rudolph-rot geworden war, konnte sie sprechen.
»Ich verstehe nicht, warum Sie sich in meine Probleme verwickeln lassen sollten, nur damit Matthew und ich Weihnachten zusammensein können.«
Leo lächelte sein typisches, sarkastisches Lächeln. »Mir ist völlig gleich, wo du mit deinem Bengel euren Truthahn verdrückst. Ich will nur, daß du eine halbwegs anständige Künstlerin wirst.«
Harriet und Leo saßen in Leos Wagen am Rande des kleinen Parks, den die Mitglieder des Village Green Committee so liebevoll pflegten. Auch Harriets Großvater gehörte diesem Komitee an. Leo hatte ihre Großeltern angerufen und gesagt, er und Harriet kämen zum Essen. Sie wurden um halb eins erwartet. Jetzt war es fünf vor halb.
»Wenn wir von hier zu Fuß gehen, kommen wir auf die Minute pünktlich.« Harriet war furchtbar schlecht.
»Sollen wir kurz in den Pub gehen für einen Mutmacher? Du siehst ein bißchen grün aus.«
Harriet schüttelte den Kopf. »Um Himmels willen! Wenn uns jemand sieht! Außerdem werden wir ein Glas Sherry kriegen, wenn wir hinkommen, und der steigt mir immer zu Kopf.«
»Das könnte helfen.«
Harriet biß die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten, und schüttelte wieder den Kopf. »Nein, ich muß einen klaren Kopf behalten.«
Leo, der fand, daß Harriets Kopf seit ihrem Aufbruch von London zunehmend unklarer geworden war, verzichtete auf einen Kommentar. »Komm. Laß uns gehen.«
Er nahm ihren Arm und zog sie ganz nah an sich, als sie die Straße entlanggingen. Sie zitterte so sehr, daß er einen Arm um ihre Schulter legte und sie noch näher zog. Das machte das Gehen beinah unmöglich, aber sie fühlte sich besser. Als sie ans Vorgartentörchen kamen, schüttelte sie ihn ab.
Das Haus sah noch genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie hätte irgendwie erwartet, daß es kleiner wirken würde, aber das passierte wohl nur, wenn man ein Haus als Kind verließ und als Erwachsener zurückkehrte. Der säuberlich beschnittene goldene Liguster umsäumte nach wie vor den Rasen. Das geneigte Dach hing immer noch über den oberen Fenstern wie Augenbrauen, und die dornige Berberitze an den Erkerfenstern
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