Wilde Rosen: Roman (German Edition)
sie durchnumerieren«, schlug Sally vor.
»Wie war die Farm?« fragte Harriet, als James Sally am späten Sonntag abend zurückgebracht hatte.
»Kalt und finster«, sagte Sally hingerissen. »Und ich hab’s geschafft, mir eine Einladung zu Weihnachten zu erschleichen.«
Bei dem Stichwort sank Harriets Herz. Trotz der unübersehbaren Weihnachtsdekorationen in allen Schaufenstern und der Weihnachtslieder, die einen beim Einkauf im Supermarkt berieselten, hatte sie das Thema bislang emsig verdrängt. Die Vorstellung, die Festtage ohne Matthew zu verbringen, riß sie in Stücke. Sein erstes Halbjahr im Internat war fast um, und sie hatte immer noch keine Wohnung, wo er die Ferien hätte verbringen können, war diesem Ziel heute keinen Schritt näher als am Tag ihrer Ankunft in London. Aber wie immer sagte sie nichts.
»Und du und James? Ich meine ..., hat es gefunkt?«
Sally schüttelte den Kopf. »Nicht mal mein Knie hat er berührt oder mich auf die Wange geküßt. Ich hab’ ihn zum Abschied im Auto geküßt, und er ist entsetzt zurückgeschreckt. Er steht offenbar kein bißchen auf mich.« Sie seufzte tief. »Und dabei ist er so wunderbar. Ich weiß, daß ich ihn glücklich machen könnte, wenn er mich nur ließe.«
»Er hat dir nicht zufällig vorgeschlagen, in die Wohnung in Victoria Mansions zu ziehen?« fragte May hoffnungsvoll. »Sie für ihn in Ordnung zu halten?«
Sally schüttelte den Kopf. »Nein. Er muß sie ein Jahr lang vermieten, ehe er sie verkaufen kann. Er braucht jeden Penny. Seine Schwester kam vorbei und hat mir deutlich zu verstehen gegeben, wie abgebrannt James ist. Also ehrlich! Seh’ ich vielleicht aus wie eine Frau, die auf einen Millionär aus ist?«
Weder May noch Harriet brachten es übers Herz, ihr zu sagen, daß sie vermutlich exakt so aussah.
»Macht ja nichts«, sagte May, die sich an diesem Wochenende ohne Sally ein bißchen regeneriert hatte. »Ich bin sicher, wir kommen schon zurecht.«
Harriet gähnte. »Ich muß ins Bett. Wenn ich früh genug bei Leo bin, kann ich die Wohnung in Ordnung bringen, bevor er aufsteht.«
Sally betrachtete sie besorgt. Harriet arbeitete sich halbtot, um die Zeit wettzumachen, die sie der Malerei widmete. Und was sie ihnen sagen mußte, würde die Situation kaum besser machen. »Hört mal ...« Sie klaubte die Kissen zusammen, die ihr als Matratze dienten. »Wenn ich James Weihnachten helfe, heißt das, daß ich zwei Tage vorher hinfahren muß, das Haus ist in einem furchtbaren Zustand. Aber das bedeutet, daß ich nicht hier sein werde, um unsere Weihnachtsputz-Aufträge zu übernehmen.«
May unterdrückte ein Seufzen. »Das ist schon in Ordnung, Sally. Wir haben abgemacht, das Putzen darf nie zwischen uns und unserer Zukunft stehen.«
»Das ist es nicht ..., James ist nicht ...«
»Ist James dir wichtig?« unterbrach May.
Sally gab sich geschlagen. »Ja.«
»Also dann, folge deinem Traum. Harriet und ich kommen schon klar mit den Zusatzaufträgen.« Sie stupste Sally freundschaftlich an. »Viele Aufträge für unser Weihnachtsangebot haben wir sowieso nicht.«
Kapitel 21
D ie Chinesen sagen, man soll mit drei Dingen zeichnen«, erklärte Leo. »Der Hand, dem Auge und dem Herzen. Zwei von den dreien sind einfach nicht genug. Sie haben das nötige Geschick und die Technik, aber Sie sind nicht mit dem Herzen dabei. Auf Ihrem Blatt sieht die arme Jacqueline aus wie eine deprimierte Mrs. Mop ohne Kleider.«
»Das liegt daran, daß ich eine deprimierte Mrs. Mop bin. Man nennt es Übertragung.« Harriet versuchte, dieses traurige Eingeständnis so leichthin wie möglich auszusprechen, aber leider fiel Leo nicht darauf herein.
Er sah auf die Uhr. »Der Unterricht ist fast zu Ende. Gehen Sie Kaffee machen. Wir müssen reden.«
Harriet wollte nicht reden. Jedenfalls nicht über sich. Im Hinausgehen kam sie an Elizabeth’ Staffelei vorbei. Elizabeth hatte die Vitalität und die innere Schönheit des Modells eingefangen. Ihr Bild, das sie mit Pastellkreide gemalt hatte, strahlte wie ein Rubens-Akt.
Leo schenkte sich den Rest aus der Kaffeepresse in seine Tasse. Die Schülerinnen waren gegangen, sie waren allein. »Legen Sie den Putzlappen weg und erzählen Sie mir von Ihrem Leben, Harriet.«
»Warum?« Harriet war nicht gewillt, ihr trauriges Spießbürgerleben vor seinem zynischen Blick ans Licht zu zerren. Er verhöhnte sie schon jetzt mehr als genug.
»Es blockiert Sie. Ist es Ihr Job? Ihre Wohnsituation? Oder was?«
Harriet wandte
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