Wilde Rosen: Roman (German Edition)
alleinerziehenden Mutter zu sein wird ihm wenigstens eine Gemeinsamkeit mit der Mehrzahl seiner Schulkameraden geben.«
»Jetzt hören Sie mal«, sagte Anthony. »Ich bin sicher, nichts von alldem ist nötig.« Er warf seiner Frau einen besorgten Blick zu. Das Herz aus Stein schien einen Riß bekommen zu haben. »Wir würden niemals wollen, daß der Junge leidet ...«
»Dann sollten Sie vielleicht anfangen, darüber nachzudenken, wie Sie Harriet haben leiden lassen und wie Sie das wiedergutmachen könnten.«
Harriet leerte ihr Glas, erhob sich – ungebeten – und holte die Sherryflasche. Niemand lehnte ein zweites Glas ab.
»Ähm ... was schwebt Ihnen vor?« fragte Lavinia Burghley-Rice zögernd.
Harriet hatte das Gefühl, Leo hätte in diesem Augenblick ein königliches Lösegeld fordern können, und es wäre in gebrauchten, nicht registrierten Scheinen bezahlt worden. Vielleicht hatte Leo den gleichen Eindruck, denn er zögerte, als wäge er ab, welchen finanziellen Wert ein weichlicher Internatszögling darstellte.
»Ich denke, Harriet würde unter Umständen zustimmen, ihn vorerst auf Mr. Buckfasts Schule zu lassen, wenn sie ein Besuchsrecht erhält und ausreichend Gelegenheit, ihn während der Ferien zu sehen.« Leo zeigte das schiefe, zynische Lächeln, das er normalerweise für besonders mißlungene Bilder reservierte. »Einschließlich der kommenden Weihnachtsferien, natürlich.«
Lavinias Lider flackerten, als ihr aufging, daß sie das Weihnachtsfest ohne Matthew verbringen könnte, nicht Harriet.
Harriet sah den Ausdruck in den hellen Augen und spürte mit einem Mal ein Mitgefühl, das sie sich im Augenblick überhaupt nicht leisten konnte. Wenn sie jetzt auch nur die kleinste Schwäche zeigte, würde sie alles verlieren, was Leo für sie erreicht hatte. Sie lenkte ihr Mitgefühl in eine andere Richtung. Sicher müßte sich dringend irgend jemand um das Essen kümmern. Sie stand auf.
»Möchtest du, daß ich die Soße mache, Granny?«
»Oh ... Ja, Liebes. Danke.«
Harriet verzog sich in die Küche, wo sie, wie erwartet, eine zu lange gekochte Lammkeule vorfand. Ihre Großmutter hatte ihr gedankt!
Als Harriet und Leo schließlich nach Essen und Tee aus hauchdünnen Porzellantäßchen aus dem Haus traten, war Harriet schwindelig von ihrem Triumphgefühl. Ihre Großeltern hatten Leo eingeladen, mit ihnen allen Weihnachten zu feiern, und Leo hatte angenommen. Anschließend sollte Harriet Matthew mit nach London nehmen und mit ihm am Cheyne Walk wohnen. Irgendwie hatte Leo ihren Großeltern zu verstehen gegeben, daß Harriet dort wohne, und es war eine äußerst feine Adresse. Hätten sie gewußt, daß sich hinter der feinen Adresse eine Wohnung verbarg, die nur wenig besser als ›heruntergekommen‹ war, hätten sie niemals zugestimmt. Aber Leo hatte sie mit seinem herrischen Auftreten und seiner blaublütigen Verwandtschaft überrumpelt.
»Also?« fragte Leo, als sie zum Wagen kamen. »Was möchtest du jetzt machen? Ich denke, irgendeine Art von Siegesfeier ist angezeigt.«
»Allerdings! Du warst wunderbar. Du hast sie verhext. Bist du wirklich mit Lord Westwood verwandt? Das war ein meisterhafter Zug.«
Leo lächelte. »Ja, es stimmt. Also, was möchtest du tun?«
Harriet sah ihn an. Was sie wollte, war, in ein Hotel entführt und dort so weit abgefüllt zu werden, daß sie ihre Hemmungen über Bord werfen konnte, und dann mit Leos zweifellos weitreichenden Kenntnissen und Fertigkeiten geliebt zu werden. Aber leider konnte sie das unmöglich vorschlagen.
»Ich bin so müde«, erkannte sie plötzlich. »All die Jahre haben diese jämmerlichen alten Leute jeden Augenblick meines Lebens bestimmt. Und statt endlich all die Dinge zu tun, die sie nicht gutheißen, wie etwa Löcher in den Rasen der öffentlichen Grünanlage zu graben oder eine Telefonzelle zu demolieren, will ich auf einmal nur schlafen.«
»Laß uns einen gemütlichen Pub mit einem offenen Kamin suchen und uns dort ein Weilchen ans Feuer setzen. Ich will noch nicht nach London zurück.«
Harriet schüttelte den Kopf. »Ich habe mich noch nicht so weit von alten Zwängen befreit, daß ich um fünf Uhr nachmittags einen Pub betreten würde.« Sie streckte die Hand aus. »Komm. Ich zeig’ dir, wo ich aufgewachsen bin.«
Leo nahm ihre Hand. »Harriet, du bist sagenhaft. Du willst deine Ketten abstreifen und bringst es nicht über dich, vor sechs Uhr etwas zu trinken.«
Sie durchquerten den kleinen Park und kamen zu einem Pfad,
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