Wilde Saat
ihn zur Seite. »Hörst du denn nicht!« rief er. »Das ist nicht Nweke! Es ist Anyanwu!«
Doro war der festen Überzeugung, daß Nwekes Übe r gang sich dem Ende näherte. Die Zeit stimmte genau – fr ü her Morgen, nur wenige Stunden bis zur Dämmerung. Das Mädchen hatte die üblichen zehn bis zwölf Stunden der Agonie überstanden. Die A b stände, in denen sie sich ruhig verhielt, waren immer länger geworden. Keine Schreie, kein Stöhnen mehr. Still lag sie im Bett, denn nicht einmal mehr ein Knarren war zu hören. Trotz dieser äußeren Ruhe waren die letzten Stunden des Übergangs die schlimmsten und auch gefährlichsten. Es war die Zeit, in der ein Mensch wie Anyan Wu , kraftvoll, furchtlos und voller Anteilna h me, unerläßlich war. Anyanwu eignete sich für diese Au f gabe besonders gut, da sie nicht verletzt werden konnte – z u mindest nicht auf eine bleibende Weise.
Doros Leute hatten ihm berichtet, daß dies die Zeit sei, in der ihre Schmerzen sich ins Unerträgliche steigerten und in der die Aufnahme fremder Geda n ken und Empfindungen sie bis an die Grenzen des Wahnsinns trieb, so daß sie glaubten, die Qualen würden niemals mehr ein Ende ne h men. Es war die Zeit, in der es zu folgenschweren Feh l handlungen kommen konnte, weil die im Übergang stehe n den Personen in ihrer Not nichts unversucht ließen, der Pein ein Ende zu machen. Und es war die Zeit, in der sie zu ahnen begannen, daß es einen Weg gab, die furchtbaren Kräfte in den Griff zu bekommen und zu beherrschen. E i nen Weg, den Frieden für sich zu finden.
Doch anstatt des Friedens und der Ruhe für Nweke e r tönte plötzlich dieser grauenhaft Schrei. Und Isaak sprang wie von der Tarantel gestochen vom Bett und stürmte an Doro vorbei in das eheliche Schlafzi m mer.
Was konnte geschehen sein?
War Anyanwu nicht imstande gewesen, trotz ihrer he i lenden Fähigkeiten das Mädchen am Leben zu halten? Oder war etwas anderes geschehen? Ein U n fall, den Doro nicht voraussehen konnte, weil er e t was Derartiges bisher noch nicht erlebt hatte? Was mocht e dieser entsetzliche Schrei aus Anyanwus Mund zu bedeuten haben?
»O mein Gott«, brach es aus Isaak hervor, als er das Schlafzimmer betrat. »Was hast du getan? O mein Gott, o mein Gott!«
Doro blieb auf der Türschwelle stehen und blickte in den Raum. Aus Mund und Nase blutend, lag Anyanwu auf dem Fußboden. Ihre Augen waren geschlossen, das Leben schien aus ihrem Körper en t wichen zu sein.
Auf dem Bett saß Nweke. Sie starrte auf Anyanwu ni e der. Isaak hatte sich sekundenlang zu Anyanwu hinabg e beugt. Er faßte ihre Schulter und schüttelte seine Frau wie eine Schlafende, die er aufzuwecken versuchte. Kraftlos schwang Anyanwus Kopf von einer Seite zur anderen.
Isaak blickte auf, sah Nwekes Gesicht über einem z u sammengeballten Federbett. Noch bevor Doro die Absicht Isaaks erfaßt hatte, nahm dieser mit der e i nen Hand einen Arm des Mädchens und schlug ihr mit der Rechten mit a l ler Gewalt ins Gesicht.
»Schluß damit!« schrie er wild. »Schluß damit. Sie ist deine Mutter.«
Nweke fuhr sich mit der Hand über die Wange. Entse t zen malte sich auf ihren Zügen, Nichtbegreifen. Doro eri n nerte sich, daß ihr Gesicht vor Isaaks Schlag völlig au s druckslos gewesen war. Mit Augen, die zu Stein erstarrt schienen, hatte sie auf die blutende Anyanwu niederg e schaut. Ein Blick ohne Leben, der nicht das geringste wahrzunehmen vermochte. Vielleicht spürte sie den Schmerz von Isaaks Schlag. Vielleicht waren Isaaks wild hervorgerufene Worte in ihr Bewußtsein gedrungen – o b wohl Doro bezweifelte, daß sie in der Lage war, noch i r gendwelche Worte zu ve r stehen. Alles, was sie erreichte, waren Schmerz, Lärm und Chaos.
Ihr kleines, hübsches, völlig leeres Gesicht verzerrte sich plötzlich, und ein Schrei kam über Isaaks Li p pen.
Es war geschehen, und Doro hatte gesehen, wie es g e schah. Er wußte, daß sie den Übergang nicht geschafft ha t te, er war oft genug Zeuge solcher Feh l schläge gewesen. Die Körper dieser Menschen standen den Übergang durch, j e doch ihr Geist zerbrach. Sie gelangten in den Besitz der Macht und gewannen auch die Kontrolle über sie. Gleic h zeitig aber verl o ren sie alles, was diese Macht nützlich und sinnvoll machte. Weshalb nur hatte er nicht schnell genug begriffen? Warum war er so langsam gewesen? Was war, wenn der Schaden, den Isaak erlitten hatte, nicht mehr zu heilen war. Was, wenn sie beide, Isaak und Nweke, keine Chance
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