Wilde Schafsjagd
Wahrheit unterscheiden sich diese beiden Auffassungen jedoch kaum. Es sind nur – wie die meisten gegensätzlichen Auffassungen – verschiedene Namen für ein und denselben Salat.
Das war eine Metapher.
Vom Blickwinkel der ersten Auffassung (a) aus war es ein Zufall, dass ich die Aufnahme von den Schafen auf die Fotoseite des Werbeblatts brachte, vom Blickwinkel der zweiten Auffassung (b) aus war es kein Zufall.
a) Ich war auf der Suche nach einem geeigneten Bild für die Fotoseite des Werbeblatts. In meiner Schreibtischschublade befand sich zufällig ein Foto von Schafen. Also benutzte ich es. Ein beschaulicher Zufall in einer beschaulichen Welt.
b) Das Bild von den Schafen hatte in der Schreibtischschublade die ganze Zeit auf mich gewartet. Hätte ich es nicht in der Werbezeitschrift abgedruckt, hätte ich es irgendwann irgendwie anders verwendet.
Mit dieser Formel ließe sich im Grunde mein ganzes bisheriges Leben darstellen. Mit etwas Übung könnte ich mit der rechten Hand ein a)- und mit der linken ein b)-Leben führen. Aber das ist völlig schnurz: Ob ich das Loch in einem Doughnut als bloßen leeren Raum oder als eigenständige Existenz begreife, ist ein rein metaphysisches Problem – am Geschmack des Doughnut ändert es nicht das Geringste.
Als mein Partner wegen irgendwelcher Angelegenheiten gegangen war, wirkte das Zimmer mit einem Mal verlassen. Nur die Zeiger der elektrischen Uhr drehten sich geräuschlos weiter. Bis vier, wenn der Wagen mich abholen würde, blieb noch Zeit, und dringende Arbeiten hatte ich nicht zu erledigen. Auch im Nebenzimmer war es still.
Ich saß auf dem himmelblauen Sofa, Whiskey trinkend, ließ mich wie der Flaum einer Pusteblume vom angenehmen Wind der Klimaanlage umfächeln und starrte auf die Zeiger der elektrischen Uhr. Solange die Zeiger sich bewegten, bewegte sich auch die Welt. Keine besondere Welt vielleicht, aber sie bewegte sich immerhin. Und solange sich die Welt bewegte, existierte ich. Keine besondere Existenz vielleicht, aber immerhin eine Existenz. Dass sich jemand nur mittels der Zeiger einer elektrischen Uhr seiner Existenz vergewissern konnte, kam mir schon merkwürdig vor. Es sollte dazu auf dieser Welt andere Methoden geben. Aber mir fiel beim besten Willen keine geeignete ein.
Resigniert trank ich noch einen Schluck Whiskey. Die Hitze rann durch meine Kehle, kroch die Speiseröhre hinab und senkte sich elegant in den Magen. Draußen vor dem Fenster breitete sich der azurne Sommerhimmel aus, bestückt mit weißen Wolken. Es war ein schöner Himmel, und doch irgendwie abgenutzt, wie aus zweiter Hand. Ein Second-hand-Himmel, zum Verkauf mit Spiritus auf neu poliert. Ich trank einen Schluck Whiskey auf ihn. Früher muss er mal ein nagelneuer Himmel gewesen sein. Der Whiskey war nicht schlecht, ein Scotch. Auch der Himmel war gar nicht so schlecht; man konnte sich daran gewöhnen. Langsam durchflog von links nach rechts ein Jumbo den Fensterausschnitt. Die Maschine sah aus wie ein gepanzertes, silberglänzendes Insekt. Nach dem zweiten Whiskey drängte sich mir die Frage auf, weshalb ich eigentlich hier saß.
Was spukte mir bloß im Kopf herum?
Die Schafe!
Ich stand auf, nahm die Kopie der Fotoseite vom Schreibtisch meines Partners und ging wieder zum Sofa. Dann starrte ich, Eis mit einem Rest Whiskeygeschmack lutschend, zwanzig Sekunden auf das Bild und überlegte intensiv, was es wohl bedeuten mochte.
Das Bild zeigte eine Wiese mit Schafen. An die Wiese schloss sich ein Birkenwald an. Riesige Birken, wie sie für Hokkaido typisch sind. Nicht die Funzelbirken, die sich der Zahnarzt von nebenan an den Eingang stellt. Stattliche Birken, an denen sich vier ausgewachsene Bären zur gleichen Zeit die Krallen wetzen könnten. Vom reichen Blattbestand her musste es Frühling sein. Die Berggipfel im Hintergrund waren noch schneebedeckt. Ein bisschen lag auch noch auf den Hängen. April wahrscheinlich oder Mai. Die Zeit von Schneeschmelze und Matsch. Der Himmel war blau (das nahm ich jedenfalls an; die Schwarzweißaufnahme ließ diesbezüglich keine genauen Schlüsse zu; es hätte auch lachsrosa sein können), über den Bergen lag weißer Wolkendunst. Aber soviel ich auch sinnierte: Die Schafherde war und blieb eine Schafherde, der Birkenwald ein Birkenwald und die weißen Wolken weiße Wolken. Das war alles, weiter war nichts.
Ich warf das Foto auf den Tisch, rauchte eine Zigarette, gähnte. Dann nahm ich mir noch einmal das Foto vor. Diesmal zählte ich
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