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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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beschlossen hatte, das Schaf zu suchen, erheblich besser. Ich fühlte mich bis in die Fingerspitzen frisch und voller Energie – zum ersten Mal seit jenen Tagen, als ich die Grenze zu den Zwanzigern überschritt. Nachdem ich das Geschirr in die Spüle gestellt und dem Kater sein Morgenfutter gegeben hatte, rief ich den Mann in Schwarz an. Nach sechsmaligem Klingeln nahm er ab.
    »Hoffentlich habe ich Sie nicht geweckt«, sagte ich.
    »Keine Sorge. Ich bin morgens immer früh«, sagte der Mann. »Was gibt es?«
    »Welche Zeitungen lesen Sie?«
    »Alle überregionalen und acht Lokalblätter. Die kommen allerdings erst gegen Abend.«
    »Sie lesen sie ganz?«
    »Das gehört zu meiner Arbeit«, sagte der Mann beherrscht. »Weshalb?«
    »Lesen Sie auch die Sonntagsausgaben?«
    »Auch die Sonntagsausgaben, ja«, sagte der Mann.
    »Haben Sie in der Ausgabe heute früh das Pferdefoto gesehen?«
    »Ich habe es gesehen«, sagte der Mann.
    »Das Pferd und der Reiter scheinen an völlig verschiedene Dinge zu denken, finden Sie nicht?«
    Wie der Neumond in die Nacht stahl sich Stille durch den Hörer ins Zimmer. Kein Atem war zu hören. Stille – so perfekt, dass sie auf den Ohren lastete.
    »Darüber wollten Sie mit mir sprechen?«, sagte der Mann.
    »Nein, nein, ich plaudere nur. Es ist doch nett, gemeinsamen Gesprächsstoff zu haben!«
    »Wir haben gemeinsamen Gesprächsstoff. Anderen. Zum Beispiel das Schaf.« Hüsteln. »Verzeihen Sie – könnten Sie vielleicht kurz und bündig zur Sache kommen? Ich habe nicht so viel Zeit wie Sie.«
    »Genau das ist das Problem«, sagte ich. »Kurz gesagt werde ich mich morgen auf die Suche nach dem Schaf machen. Ich habe lange hin und her überlegt, mich dann aber dafür entschieden zu suchen. Nur: Wenn schon, dann auf meine Weise. Auch wenn ich rede. Ich will reden, wie es mir beliebt. Ich habe ein Recht darauf zu plaudern. Ich will nicht, dass man alle meine Schritte überwacht, und ich will nicht ständig von jemandem umhergestoßen werden, dessen Namen ich nicht einmal kenne. Verstehen Sie?«
    »Sie verkennen die Lage, in der Sie sich befinden.«
    »Sie verkennen ebenfalls die Lage, in der ich mich befinde. Hören Sie, ich habe gestern den ganzen Abend nachgedacht. Dabei ist mir klargeworden, dass ich fast nichts zu verlieren habe. Von meiner Frau bin ich geschieden, und in der Firma werde ich heute kündigen. Meine Wohnung ist gemietet, und Hausrat habe ich nur wenig. Alles, was ich besitze, sind knapp zwei Millionen Yen an Ersparnissen, ein gebrauchtes Auto und ein alter Kater. Meine Kleider sind alle aus der Mode, selbst meine Schallplatten haben bestenfalls Kuriositätenwert. Ich genieße weder hohes Ansehen noch das Vertrauen der Gesellschaft, habe auch keinen Sex-Appeal. Ich bin ohne Talent und nicht einmal mehr sehr jung. Ich gebe stets Belanglosigkeiten von mir und bereue sie anschließend. Ich bin, mit einem Wort, um Ihren Ausdruck zu benutzen, ein mittelmäßiger Mensch. Was sollte ich schon noch zu verlieren haben? Was? Verraten Sie es mir, wenn Sie können!«
    Eine Weile herrschte Schweigen. Ich entfernte so lange einen Faden, der sich an einem Knopf meines Hemdes verfangen hatte, und malte mit dem Kugelschreiber dreizehn Sternchen auf den Notizblock.
    »Jeder hat ein, zwei Dinge, die er nicht verlieren möchte. Auch Sie«, sagte der Mann. »Die herauszufinden sind wir Profis. Jeder Mensch balanciert irgendwo zwischen Begierde und Stolz. So wie alle Körper einen Schwerpunkt haben. Wir können diesen Punkt herausfinden, Sie werden es merken. Wenn Sie ihn dann verloren haben, wird Ihnen erst klarwerden, dass er existierte.« Kurzes Schweigen. »Allerdings ist das ein Problem, das erst in einem späteren Stadium auftreten wird. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das, was Sie in Ihrer Rede ausgedrückt haben, nicht unverständlich. Ich nehme Ihre Forderung erst einmal hin und werde mich nicht zu sehr einmischen. Gehen Sie vor, wie Sie es für richtig halten. Einen Monat lang – zufrieden?«
    »Zufrieden«, sagte ich.
    »Schön«, sagte der Mann.
    Er hatte aufgelegt. Auf eine Weise, die nichts Gutes verhieß. Um dieses ungute Gefühl zu verdrängen, machte ich dreißig Liegestützen und zwanzig Sitzbeugen, dann spülte ich das Geschirr und wusch die Wäsche der letzten drei Tage. Danach ging es mir wieder fast so gut wie vor dem Anruf. Ein angenehmer Septembersonntag. Der Sommer war fast vorbei, verblasst wie ein altes Bild, an das man sich nur schwach erinnern kann.
    Ich zog ein

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