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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ich hatte meine Frau verloren, und in knapp drei Monaten würde ich dreißig werden. Ade, ihr Zwanziger. Eine Zeit lang dachte ich darüber nach, wie mein Leben wohl mit sechzig aussehen würde. Aber das hatte keinen Sinn. Ich konnte ja nicht einmal einen Monat in die Zukunft schauen.
    Ich ging nach Hause, putzte mir die Zähne, zog meinen Schlafanzug an, legte mich ins Bett und las weiter in den Abenteuern des Sherlock Holmes . Um elf Uhr löschte ich das Licht und schlief bis zum Morgen wie ein Murmeltier.

8. BÜCKLINGS GEBURT
    Um zehn Uhr morgens fuhr jenes wahnsinnige U-Boot von Auto am Hauseingang vor. Von oben, aus dem zweiten Stock, sah es allerdings eher wie eine umgestülpte Plätzchenform aus Metall aus. Damit könnte man ein Plätzchen von solchen Ausmaßen backen, dass dreihundert Kinder zwei Wochen lang daran zu knabbern hätten. Meine Freundin und ich setzten uns aufs Fenstersims und schauten eine Zeit lang von oben auf das Fahrzeug.
    Der Himmel war so blau, dass einem übel werden konnte. Ein Himmel wie aus einem expressionistischen Vorkriegsfilm. In großer Höhe flog ein Hubschrauber; er wirkte geradezu unnatürlich klein. Der völlig wolkenlose Himmel sah aus wie ein riesiges Auge mit abgeschnittenem Lid.
    Ich schloss und verriegelte alle Fenster in der Wohnung, stellte den Kühlschrank ab und sah noch einmal nach dem Hauptgasschalter. Die Wäsche hatte ich hereingenommen, das Bett war abgedeckt, die Aschenbecher ausgespült und das Arsenal von Shampoos und Fläschchen im Badezimmer ordentlich verstaut. Die Miete war für zwei Monate im Voraus bezahlt, die Zeitung abbestellt. Von der Tür aus bot die unbewohnte Wohnung ein unnatürlich stilles Bild. Ich dachte, während ich meinen Blick schweifen ließ, an die vier Jahre, die ich mit meiner Frau hier verbracht hatte, und an die Kinder, die ich mit ihr hätte haben können. Dann kam der Aufzug, meine Freundin rief, und ich schloss die Eisentür.
    Der Fahrer nutzte die Wartezeit dazu, mit einem trockenen Tuch hingebungsvoll die Windschutzscheibe zu polieren. Der Wagen zeigte nach wie vor nicht das geringste Fleckchen; das Chassis strahlte im Licht der Sonne eigentümlich grell. Eine kleine Berührung, und man würde sich verbrennen.
    »Guten Morgen«, sagte der Fahrer. Es war der religiöse von vorgestern.
    »Guten Morgen«, sagte ich.
    »Guten Morgen«, sagte meine Freundin.
    Sie hatte den Kater im Arm, und ich trug die Tüten mit dem Katzenfutter und dem Streusand fürs Katzenklo.
    »Herrliches Wetter«, sagte der Fahrer, den Blick zum Himmel gerichtet. »Fast, wie soll ich sagen, transparent.«
    Wir nickten.
    »Bei solch klarem Wetter kommen sicher die Botschaften Gottes besser an«, meinte ich.
    »Keineswegs«, sagte der Fahrer fröhlich lächelnd. »Die Botschaften sind schon da, in allen Dingen und überall. In jeder Blume, jedem Stein, in jeder Wolke …«
    »Und jedem Auto?«, fragte meine Freundin.
    »Auch in jedem Auto.«
    Ich: »Aber Autos werden in Fabriken hergestellt.«
    »Wo und von wem auch immer – Gottes Wille dringt in alle Dinge.«
    Meine Freundin: »Wie Milben?«
    »Wie die Luft«, verbesserte der Fahrer.
    »In Autos, die in Saudi-Arabien hergestellt werden, steckt demnach der Wille Allahs?«
    »In Saudi-Arabien werden keine Autos produziert.«
    Ich: »Wirklich nicht?«
    »Wirklich nicht.«
    »Tja, welcher Gott steckt denn in in den USA produzierten und nach Saudi-Arabien exportierten Autos?«, fragte meine Freundin.
    Das war eine schwierige Frage.
    »Richtig, wir müssen uns ja noch über den Kater unterhalten«, eilte ich zu Hilfe.
    »Ein niedliches Tier«, sagte der Fahrer offensichtlich erleichtert.
    Der Kater war allerdings ganz und gar nicht niedlich. Eher das genaue Gegenteil. Das Fell war dünn wie ein abgewetzter Teppich, die Schwanzspitze um sechzig Grad abgeknickt, die Zähne gelb. Die Sehkraft des rechten Auges, das von einer vor drei Jahren erlittenen Verletzung noch immer eiterte, ließ ständig nach. Es war zweifelhaft, ob er Turnschuhe von Kartoffeln unterscheiden konnte. Die Sohlen seiner Pfoten sahen aus wie vertrocknete Erbsen, in seinen Ohrgängen tummelten sich unausrottbare Milben, und außerdem musste er vor Altersschwäche zwanzigmal am Tag furzen. Als meine Frau ihn unter einer Parkbank hervorgezogen und mit nach Hause gebracht hatte, war er ein junger, kräftiger Kater gewesen, aber seit Ende der siebziger Jahre rollte er wie eine Bowlingkugel auf schiefer Ebene immer schneller der Katastrophe

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