Wilde Wellen
Brust.
Merkwürdig, dachte Claire, als sie ihren Mann so vor dem Spiegel stehen sah. Ein Mann in Strümpfen, die Hosen, die etwas zu lang auf den FuÃspann fielen, die losen Enden der Krawatte, der offene Hemdkragen, wie verletzlich er da wirkte. Und dann auch noch dieser verlorene Blick dazu â durchaus auch ein wenig armselig.
»Was für ein ausgemachter Blödsinn!« Leon riss sich zusammen. »Wer hat sich denn so was ausgedacht?«
»Die Polizei hat in seiner Garage das Auto gefunden, mit dem Céline überfahren worden ist. Du erinnerst dich doch an das schnuckelige Cabrio, das er Monique geschenkt hatte. Es stand wohl all die Jahre in einen Garage, die Michel gemietet hatte.«
»Und du glaubst diesen Blödsinn?« War es Verachtung in Leons Blick, mit der er sie ansah? Claire hob die Schultern.
»Was ich glaube, ist vollkommen unwichtig. Aber gegen eindeutige Beweise kann man einfach nichts sagen.«
Leon wandte sich wieder seinem Krawattenknoten zu. Seine Hände zitterten, als er die seidenen Enden umeinanderzuwinden versuchte. Es brach alles auseinander. Caspar ein Erpresser? Michel ein Mörder? Plötzlich fühlte er sich unendlich müde. Er wollte nichts mehr hören. Nichts mehr sehen. Er wollte nichts mehr fürchten. Einfach nur still dasitzen und seinem Atem zuhören, das würde er nun gern.
»Er soll Célines Geliebter gewesen sein. Und als sie die Sache beenden wollte â¦Â« Claires Gesicht war seinem ganz nah, als sie ihm die Krawatte aus den Händen nahm und sie mit ein paar Griffen zu einem perfekten Windsorknoten schlang.
»⦠hat er sie getötet? â Claire! Das glaubst du doch selbst nicht. Erstens gab es keinen Mann in Célines Leben. Das hätte ich gemerkt. Zweitens gab es in Michels Leben nach Moniques Weggang zwar hin und wieder so etwas wie eine Geliebte, aber die waren immer von auÃerhalb, und nach spätestens einem halben Jahr war die Sache auch beendet. Er hat nie aufgehört, Monique zu lieben. Und deswegen hatte er auch keinen Grund, nicht den geringsten Grund, Céline umzubringen. Ich kann nicht verstehen, dass du so etwas vollkommen Abwegiges glaubst.«
»Ich sagte nicht, dass ich das glaube.« Claires Stimme klang, als würde sie mit einem widerspenstigen Kind reden. »Ich habe nur erzählt, was im Ort geredet wird.«
»Lass die Leute reden. Ich werde jetzt Maître Jumas anrufen. Er soll sich sofort um Michel kümmern. Du wirst sehen, heute Abend wird er wieder zu Hause sein.«
Als Leon aus dem Raum eilte, runzelte Claire die Stirn. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben. Konnte es sein, dass sie sich verkalkuliert hatte?
Leon war überrascht, Caspar in seinem Bett vorzufinden. Tief schlafend wie ein Baby. Nachdem er das Boot dem Verleiher in Brest zurückgebracht und das Geld in einem BankschlieÃfach verstaut hatte, war er mit seinem Bulli zurück zum Schloss getuckert, wo er sich sofort ins Bett gelegt hatte und in einen ruhigen Schlaf gesunken war.
Leons Blick wurde mild. Dieser Junge mit den schlafroten Backen und den langen blonden Locken, der aussah wie ein Botticelli-Engel, hatte das kalte Herz eines Teufels? Was würde er antworten, wenn er ihn jetzt aufweckte und fragte, wo die Million sei? Würde er ihn verblüfft ansehen? Nicht wissen, was er meinte? Oder würde er ihm eine hastige Lügengeschichte auftischen, wozu er das Geld brauchte und wieso er sich nicht getraut hatte, ihn zu fragen?
Mit einem leisen Seufzer setzte sich Leon auf den Stuhl, den Caspar vor Jahren knallrot lackiert hatte, ohne darauf zu achten, dass es sich um einen Stuhl aus einem der Schlösser von Napoleon gehandelt hatte. Er konnte den Blick nicht von seinem Sohn wenden.
»Wieso hast du mich verlassen?« Er verzog das Gesicht, als er das Pathos dieser Frage in sich aufschwingen fühlte. Aber war das nicht wirklich die Frage, die ihm in der letzten Zeit so sehr zu schaffen machte? Wieso hatte Céline ihn verlassen? Wieso drohte Michel, ihn zu verlassen? Und Caspar? Was gab es für einen Grund für diesen Jungen, den er liebte wie niemanden sonst auf der Welt, ihn zu verlassen?
»Was hast du gesagt?« Als Caspar die Augen aufschlug und seinen Vater von seinem Bett sitzen sah, war er sofort hellwach.
»Hab ich verschlafen? Tut mir leid. Diese Vernissage gestern, ich hab wohl ein Glas zu viel gehabt. Gib mir drei Minuten, und ich bin
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