Wilde Wellen
sein könnte. Wenn sie je davon erfahren würde. Was aber nicht der Fall sein würde, denn das war gewiss: Seine Mutter würde er zurücklassen wie seine ganze Vergangenheit. Sie würde ihm nie mehr in sein Leben hineinreden können. Das Interessante war, dass er keine Spur des Bedauerns spürte, wenn er sich seine Zukunft ohne seine Mutter ausmalte. Dabei war er doch so lange, eigentlich die meiste Zeit seines Lebens, an ihrer Seite gewesen. Er hatte sie geliebt. Er war stolz auf sie gewesen, die schönste Mutter der Schulen, die er besucht hatte. Und als er im Internat gewesen war â hatte er sich nicht darauf gefreut, sie wiederzusehen? Hatten sie nicht fröhliche Zeiten miteinander verbracht? Wieso konnte er sie nun so ohne Weiteres aus seinem Leben streichen? Die Frau, die ihn geboren, ihm das Leben geschenkt hatte? Weil es kein Geschenk gewesen war, dieses Leben. Weil sie ihn jeden Tag daran erinnert hatte, dass er ihr irgendwann etwas dafür würde zurückgeben müssen. So etwas nannte man nicht Geschenk. Es war eine Bürde, die sie ihm aufgeladen hatte. Ohne ihn zu fragen. Ohne sich darum zu kümmern, ob er diese Bürde überhaupt tragen wollte und konnte. Nun, da er dabei war, diese Bürde abzustreifen und sein Leben so zu gestalten, wie er es wollte, spürte er keine Schuld. Und keine Reue. Er hatte sich nicht einmal das genommen, was ihm nach Ansicht seiner Mutter zustand. Er hatte sich nur so viel genommen, wie er glaubte zu brauchen, um sich von der unendlichen Last seiner Herkunft zu befreien.
Der Schäfer war wie vom Erdboden verschwunden. Nicht einmal die Spuren seiner Schafherde konnten Marie und Paul entdecken, als sie ihn beim Menhir suchten und dann bei dem groÃen Dolmenareal, an dem ihm Paul ein paarmal begegnet war.
»Marie Lamare«, meldete sie sich am Telefon. Paul erkannte sofort, wie fassungslos Marie war, als sie hörte, was der Anrufer am anderen Ende ihr zu berichten hatte.
»Aber das ist doch nicht möglich. Wieso wollte er nicht mit dem Anwalt reden? Er hat ein Geständnis abgelegt?«
Als sie den Hörer sinken lieÃ, war Paul sofort klar, was passiert sein musste.
Michel Dumont hatte vor dem Untersuchungsrichter gestanden, dass er Céline Marchand getötet hatte. Er war bereit, die Konsequenzen dafür zu tragen.
»Ich muss zu ihm. Bestimmt ist ihm nicht klar, was er gesagt hat. Er war es nicht. Er kann es einfach nicht gewesen sein.«
Es war merkwürdig, aber Paul überkam in diesem Moment nicht die Ruhe, die er erwartet hatte. Er hatte sich die ganze Zeit so sehr gewünscht, dass der Tod seiner Mutter aufgeklärt würde. Und jetzt? Wo er die ganze schreckliche Geschichte hätte abschlieÃen können, war da Maries verzweifeltes Klammern an Michels Unschuld. Wieso konnten sie es nicht einfach gut sein lassen?
»Vielleicht hat er sie nicht gesehen. Vielleicht war es ein schrecklicher Unfall.« In dem Moment, in dem er das sagte, wusste er, dass Marie das niemals akzeptieren würde.
»Wenn ihm das passiert wäre, wenn es ihm wirklich passiert wäre â glaubst du, er hätte mir in die Augen sehen können? Glaubst du, er hätte einfach weiter in seiner Küche stehen und die wunderbarsten Gerichte kochen können? Glaubst du, er hätte an Célines Grab stehen können?«
Niemals würde sie das glauben. Da musste etwas anderes dahinterstecken. Ein Gedanke stieg in ihr auf: Was, wenn er wusste er, wer es war? Vielleicht kannte er denjenigen ja und versuchte nun, ihn zu decken.
»Er hätte sich gestellt. Selbst wenn er im Schock einfach weggefahren wäre â irgendwann wäre er zur Polizei gegangen und hätte alles gestanden.«
Er wollte Marie in die Arme nehmen. Doch sie riss sich los.
»Er war es nicht. Es ist völlig undenkbar, dass er es gewesen ist.«
Sie konnte sich auch nicht erklären, woher sie diese Sicherheit hatte. Aber sie war da. Und sie würde nicht einfach hinnehmen, dass ihr Vater ins Gefängnis kam für etwas, was er nicht getan hatte.
»Du hast selbst gesagt, dass man in die Menschen nicht hineinschauen kann. WeiÃt du, ob er dir nicht etwas vorgemacht hat? Vielleicht ist der wahre Michel doch der Lügner und Betrüger, für den du ihn am Anfang gehalten hast.«
Marie konnte verstehen, dass Paul so dachte. Es war seine Mutter, die bei dem Unfall ums Leben gekommen war. Musste es nicht
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