Wilde Wellen
direktem Weg zu Ruhm und Ansehen führen wird.«
Ein paar Tage. Vielleicht ein paar Wochen. Dann würde dieser Spuk vorbei sein. Das Leben würde in seine ruhigen Bahnen zurückflieÃen. Und sie, Claire Menec, würde einen heimlichen Triumph feiern.
Mit der Nacht wuchs sich der Sturm zu einem Orkan aus. Schwarz und sternenlos hing der Himmel tief über dem Meer. Die Wellen bäumten sich immer höher, bevor ihr Kamm in die dunklen unergründbaren Wellentäler brach. Die elegante Yacht tanzte wie ein Korken auf dem brodelnden Wasser. Winzig wie ein Spielzeugschiff war sie den Gewalten der Natur ausgeliefert.
9
Sie musste mit Leon sprechen. Musste ihn fragen, ob er sich vorstellen konnte, wieso Michel dieses Geständnis abgelegt hatte. Keiner kannte Michel besser als Leon. Sie waren ihr Leben lang Freunde gewesen. Vielleicht hatte er eine Idee, was in Michel vorging. Denn mit ihr wollte Michel nicht reden.
»Der Häftling will keinen Besuch empfangen.« Wie einen Schlag mitten ins Gesicht hatte sie die Auskunft des Beamten empfunden, als sie am frühen Morgen vor dem Untersuchungsgefängnis in Brest gestanden und darum gebeten hatte, ihren Vater sehen zu dürfen.
»Das muss ein Missverständnis sein. Haben Sie ihm gesagt, dass seine Tochter ihn sprechen will?« Es hatte nichts genützt; sie musste begreifen, dass ihr Vater nicht mit ihr reden wollte.
»Vermutlich schämt er sich.« Sie hatte Pauls Erklärungsversuch mit einer Handbewegung weggewischt.
»Wofür? Er hat nichts getan.« Sie verstand es nicht. Was war denn in ihren Vater gefahren? Oder wollte er sie nicht sehen, weil er nicht vergessen konnte, dass sie für den Bruchteil einer Sekunde an seiner Unschuld gezweifelt hatte?
Vielleicht hatte Leon eine Erklärung. Der Pförtner am Eingang der Fabrik hatte ihr zwar gesagt, dass Leon noch nicht im Büro sei, aber sie hatte ihn gebeten, in seinem Büro auf ihn warten zu dürfen. Sie ging über das weitläufige Gelände, dessen Mittelpunkt die Fabrik für die Verarbeitung der Fische bildete. Lastwagen kamen. Kühltransporter wurden beladen. Es herrschte groÃe Betriebsamkeit. Leons Firma gehörte zu den Marktführern in der Fischverarbeitung. Auch Marie schob sich hin und wieder ein Fischfilet alla Roma in die Mikrowelle oder warf sich, wenn sie sehr hungrig von der Arbeit kam, ein paar tiefgefrorene Garnelen von Menec in die Pfanne. Frisches Brot dazu und ein Glas kühlen Sancerre. Ein Festessen. Allerdings kamen, seit sie bei ihrem Vater wohnte, solche kulinarischen MittelmäÃigkeiten, wie Michel alles Tiefgefrorene nannte, nicht mehr vor. Michels Credo war die absolute Frische. Keine Zutat, die er nicht am Morgen des Tages der Zubereitung selbst eingekauft hatte. Ob Fisch, Fleisch oder Gemüse â alles hatte in Topzustand zu sein und vor allen Dingen eben frisch.
Der Pförtner hatte ihr den Weg zu dem modernen Bürogebäude gezeigt, in dem die Verwaltung der Firma und Leons Chefbüro untergebracht waren. Eigentlich hatte sie vorgehabt, noch ein wenig über das Gelände zu streifen. Doch das Wetter war zu schön. Der Sturm, der sie mit seinem rasenden Geheul aus dem leichten Schlaf, in den sie endlich gefallen war, gerissen hatte, war so plötzlich abgeflaut wie er gekommen war. Und war einer milden Sonne gewichen, die den Dunst über dem Meer korallenrot färbte. Wer wusste, wie oft es noch solche warmen Tage geben würde. Sie würde im Freien auf Leon warten. Er würde sicher gleich kommen, hatte der Pförtner gesagt. War er doch die Pünktlichkeit in Person. Und traf jeden Morgen Punkt neun in seiner Firma ein. Ein Blick auf die Uhr sagte Marie, dass es inzwischen halb zehn war. Vielleicht hatte Leon ja einen anderen Eingang genommen? Vielleicht war er längst in seinem Büro?
Die Türen der Büros von Leons Mitarbeitern waren geschlossen, als Marie an ihnen vorbeiging. Nur eine junge Frau, vermutlich eine Buchhalterin oder Sekretärin, kam ihr, eine Tasse Kaffee in der Hand, entgegen. Sie wies Marie den Weg zu Leons Büro.
»Im Moment hat der Chef ja keine Sekretärin. Also klopfen Sie einfach an seine Tür.«
Doch als Marie an die Tür von Leons Büro klopfte, rief niemand, sie solle hereinkommen. Sie sah sich unschlüssig um. Und dann, sie wusste nicht genau wieso, drückte sie die Türklinke herunter. Das Büro war nicht
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