Wilde Wellen
da, das ihn irritierte. Diese junge Frau â er hatte das Gefühl, dass er sie kannte.
»Noch mal, Marie. Keine Müdigkeit vorschützen.« Der Junge half ihr, sich aufzurichten. Und für einen Moment stand sie da. Aufrecht. Strahlend. Wunderschön. Um in der nächsten Sekunde wieder kreischend ins Wasser zu stürzen.
Das konnte nicht sein. Er täuschte sich bestimmt. Diese vergnügt junge Frau, das war sicher nicht die junge Polizistin. Natürlich war sie es nicht. Marie Lamare, der er das Leben gerettet hatte, lebte in Paris. Bestimmt ging sie längst wieder ihrer Arbeit nach â und versuchte, die SchieÃerei zu verarbeiten.
In dem Moment, als Paul die Unterlagen über Céline Marchand, die er auf der Terrasse seines kleinen Hauses mal wieder studiert hatte, zusammenpackte, sah Marie nach oben. Es war ihr plötzlich, als könne sie dort oben auf der Felsnase, wo das kleine weiÃe Haus wie ein Adlernest an der Klippe klebte, einen Menschen sehen, der auf sie heruntersah. Ein Mann war es. Ihr Herz schlug schneller. Kannte sie diesen Mann? Spielte er eine Rolle in ihrem Leben?
»Da oben, der Typ â kennst du den?«, fragte sie Caspar atemlos. Doch als dieser zum Haus auf der Klippe sah, war da niemand.
»Wen meinst du?«
»Da war ein Mann. Ich hab das Gefühl, ich kenne den. WeiÃt du, wer da wohnt?«
»Da wohnt überhaupt niemand. Das Haus steht seit ein paar Wochen leer. Seit Chantal Miller ausgezogen ist.«
»Aber ich hab da jemanden gesehen. Er kam mir so bekannt vor.«
Marie war plötzlich auÃer sich. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, den Anfang des roten Fadens in der Hand zu haben.
»Wenn ich es dir doch sage. Das Haus steht leer. Wird wohl ein Tourist gewesen sein, der ein Foto machen wollte. Jetzt komm, neuer Versuch. Ich hab das Gefühl, du willst nur ablenken.«
Maries Lachen klang nicht ganz überzeugend. Aber vermutlich hatte Caspar recht. In ihrer Panik, ihre Vergangenheit nie mehr wiederzufinden, bildete sie sich sicherlich ein, den Mann da oben zu kennen.
2
»Du bist einfach viel zu geduldig mit ihm.« Claire war wütend. Sie wusste nicht, zum wievielten Mal ihr Sohn ihr versichert hatte, heute ganz bestimmt seinen Vater ins Büro zu begleiten. Aber natürlich war das wieder einmal nicht geschehen. Leon hatte es wieder einmal mit Ausflüchten versucht, als sie ihn gefragt hatte, ob Caspar mit in der Firma gewesen sei.
»Ãhm, ich glaube, dass er mich verpasst hat. Ich musste ja schon früh nach Brest zu Sargens wegen der neuen Kühlanlagen. Wahrscheinlich hat er eine Weile im Büro auf mich gewartet und â¦Â«
So konnte es nicht weitergehen. Wieso wollte Leon nicht begreifen, dass Caspar endlich mit seinem Lotterleben, das nur aus Surfen und Partys bestand, aufhören musste. Er war kein kleiner Junge mehr, für den das Leben nur aus Spiel und Spaà bestand. Mit zweiundzwanzig hatten andere schon ein Studium hinter sich und gingen einer sinnvollen Arbeit nach. Nur ihr Sohn schien nicht daran zu denken, dass er endlich anfangen musste, sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken. Okay, sie hatte akzeptiert, dass er nicht studieren wollte. Sollte es so sein, dann musste er aber das Geschäft an der Seite seines Vaters von der Pike auf lernen. Caspar war Leons einziger Sohn. Er würde einmal sein Nachfolger werden. Wer, wenn nicht er?
»Meine Güte, Claire, sei doch nicht zu streng mit dem Jungen. Das Leben wird noch früh genug ernst werden für ihn. Soll er doch noch eine Weile seinen Spaà haben.«
Leon nahm sich zufrieden ein Stück von der Apfeltarte, die Claire am Morgen in der Boulangerie besorgt hatte.
»Diese Tarte ist einfach göttlich. Sag Madame Souril einen schönen Gruà von mir, wenn du sie das nächste Mal siehst.«
Wie immer lenkte Leon ab, wenn Claire sich über ihren Sohn aufregte. Er hatte den Jungen sein Leben lang viel zu sehr verwöhnt. Und das war das Ergebnis. Caspar hatte keine Vorstellung davon, wie ein sinnvolles Leben auszusehen hatte. Und natürlich hatte er keine Vorstellung davon, was Claire sich für ihn wünschte. Ihr Sohn würde einmal der Chef von Leons Firma werden. Wie es allein ihm zustand. Ihm, ihrem Sohn.
»Was ist, wenn er einfach keine Lust hat, Fischhändler zu werden?«
»Keine Lust? Herrgott, Leon, darauf kommt es nicht an. Es ist einfach der Gang der Dinge, dass
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