Wilde Wellen
dass sie sich sofort unterbrach.
»Ja?« Sie wusste es, bevor er es aussprechen konnte. Jean war tot. Ihr Kollege und Freund war tot. Alle Kraft, die sie gerade in sich gespürt hatte, schien aus ihr zu weichen. Nein. Nicht Jean. Nicht dieser wundervolle Mensch. Nicht Jean.
Paul konnte nichts anderes tun, als Marie einfach an sich zu ziehen. Sie festzuhalten. Der Schmerz um den verlorenen Freund lieà sie am ganzen Körper beben. Nicht Jean.
Und dann riss sie sich plötzlich los. Und schrie ihn wütend an.
»Das hat er mir auch verschwiegen: Dass ich einen Freund verloren habe. Er hat es nicht einmal zugelassen, dass ich um Jean trauern konnte. Kannst du mir mal einen Grund sagen, wieso ich diesen Menschen nicht hassen soll?«
2
Er hätte es ihr gesagt. Wenn sie ihm nur eine Minute zugehört hätte, hätte er ihr alles erklärt. Ohne jede Rücksicht auf Verluste. Michel arbeitete in seiner Küche wie ein Automat stumm vor sich hin. Er zerlegte die Fische für seine legendäre Fischsuppe, er gab knappe Anweisungen an Eliane und Marc. Rührte den Teig für die Crêpes Suzettes an, schälte die Kartoffeln für die Pommes Dauphines, die es heute zu dem Filet vom Kobe-Rind geben sollte. Eliane und Marc erledigten ihre Aufgabe geschwind und perfekt wie immer. Sie spürten, dass Michel mit seinen Gedanken heute nicht bei der Sache war.
»Marie ist nach Paris zurückgegangen«, hatte er ihnen kurz erklärt, als sie nach ihr fragten. Und es war ihnen klar, dass es ihnen nicht zustand nachzufragen.
Als Leon den Kopf in die Küche streckte und fragte, ob er einen Kaffee bekommen könnte, obwohl es schon fast Zeit fürs Abendessen war, lieà Michel den Kaffee selbst aus der Maschine und brachte ihn Leon auf die Terrasse an seinen gewohnten Tisch.
»Die Leute sagen, Marie sei nicht mehr da.« Als Leon das Gerücht gehört hatte, hatte er seine Termine sofort abgesagt. Er musste wissen, was das bedeutete. Im günstigsten Fall hätte es sein können, dass Marie sich plötzlich wieder an alles erinnerte und einfach gegangen war. Aber es war nicht ausgeschlossen, dass Michel alles versucht hatte, um sie zu halten. Alles, das würde bedeuten, dass er ihr gestanden hatte, was damals geschehen war. Und wenn dies der Fall war, dann würde Leon sofort die ReiÃleine ziehen müssen. Seit ein paar Tagen hatte er darüber nachgedacht, was er tun würde, wenn Michel die Wahrheit über den Untergang der Helena preisgeben würde. Und er war zu dem Schluss gekommen, dass er dann nichts anderes tun konnte, als das Land zu verlassen. Er hatte sich eine Liste der Länder ausgedruckt, die kein Auslieferungsabkommen mit Frankreich hatten. Und er hatte veranlasst, dass sein kleiner Jet, den er sich vor Jahren aus einer eitlen Laune heraus geleistet hatte, aufgetankt auf dem Flughafen von Brest stand. Aber bevor er die Flucht auf eine unbekannte Südseeinsel antrat, musste er wissen, wie weit Michel tatsächlich gegangen war.
»Falls du wissen willst, ob ich ihr die Wahrheit gesagt habe, kannst du beruhigt sein. Sie hat mich gar nicht zu Wort kommen lassen.«
Leon atmete innerlich auf. Sollte dieser Kelch tatsächlich an ihm vorübergegangen sein?
»Aber ich sage dir auch: Sollte ich noch einmal die Gelegenheit haben, mit ihr zu reden, werde ich ihr alles sagen.«
»Und was würde das ändern?«
Leon sah Michel kühl an.
»Glaubst du, sie wird dir verzeihen, dass du sie belogen hast? Du hast deinem einzigen Kind das Leben gestohlen. Wieso denkst du, sollte sie das vergessen?«
Michel setzte sich zu Leon an den Tisch. Seine Hände strichen ruhig über die rotkarierte Tischdecke, an der der Herbstwind zerrte.
»Wie konnten wir glauben, dass wir davonkommen würden? Kannst du mir das sagen? Wir haben Schuld auf uns geladen. Glaubst du wirklich, dass es dafür keine Sühne geben muss?«
Leon lachte leise auf.
»Schuld und Sühne, mein Freund, was für pathetisches Geschwafel. Es gibt keine Schuld auf dieser Welt, die man durch Sühne ungeschehen machen kann. Die Männer der Helena werden nicht wieder lebendig, wenn wir ins Gefängnis gehen.«
»Glaubst du das wirklich? Ich frage dich, Leon, schläfst du eigentlich gut?«
»Wieso nicht?«
»Weil ich die Schreie höre. Jede Nacht höre ich sie. Die Schreie meiner ertrunkenen Kameraden.«
Leon hörte diese Schreie
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