Wilde Wellen
Kopf und dann wieder zurück gestellt worden.
»Nicht der Rede wert. Ein paar kleine Turbulenzen, die ich nicht erwartet hatte.« Er lachte ein bitteres kleines Lachen. »In meinem Alter mag man einfach keine Ãberraschungen mehr, weiÃt du? Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung.«
Er sah ihr an, dass sie ihm kein Wort glaubte. Im Gegenteil, sie machte sich Sorgen.
»Du bist doch nicht krank? Oder pleite? Sag schon, was bedrückt dich, Michel?«
Sie legte ihre Malerhand, die immer ein bisschen ungepflegt und rau war, auf seine groÃe Hand, die unruhig einen unsichtbaren Streifen auf dem blütenweiÃen Tischtuch nachzog.
»Erinnerst du dich an Marie?«
»Du meinst an deine Tochter? Sag nicht, dass du sie wiedergesehen hast. Michel, das ist ja wundervoll. Ich hatte schon befürchtet, ihr würdet überhaupt nie mehr zusammenfinden.«
Sabine freute sich ehrlich für Michel, doch als er ihr die ganze Geschichte erzählt hatte, konnte sie nichts anderes tun, als den Freund erschüttert in die Arme zu nehmen. Auch wenn sie nie verstanden hatte, dass er keinen Versuch unternommen hatte, sein Kind in irgendeiner Weise in sein Leben zu integrieren â jetzt bedauerte sie Michel grenzenlos. Was für eine schreckliche Berg- und Talfahrt der Gefühle musste das sein. Erst die Angst, dass Marie hätte sterben können, dann das Glück, sie hierher in sein Haus zu bringen, dazu die ständige Scham, weil er sie anlog, und jetzt der Schmerz, sie gehen lassen zu müssen.
»Oh Gott, Michel, das ist alles so grausam. Aber weiÃt du was? Lass ihr etwas Zeit. Und dann fährst du nach Paris und redest mit ihr. So wie du sie geschildert hast, ist sie eine kluge junge Frau. Sie wird dir verzeihen, da bin ich mir ganz sicher.«
Verzeihen, dachte sie. Ist ein Kind, das von seinem Vater verlassen worden ist, wirklich imstande, zu verzeihen? Sie dachte an ihre eigene Tochter, die nach ihrer Scheidung von Leon ihren Vater verloren hatte. Sicher, Eva war damals schon zwölf gewesen. Aber die Kränkung darüber, dass ihr Vater sie zurückgewiesen hatte und quasi durch ein neues Kind, seinen Sohn Caspar, ersetzt hatte, diese Kränkung hatte Eva nie überwunden. Sollte das bei Marie anders sein?
»Du glaubst wirklich, dass sie mich anhören wird?«
Sie nickte, und gleichzeitig dachte sie, dass sie das nicht glaubte. Verletzte Kinderseelen heilen nur schwer. Es bleiben immer Narben zurück. Und im Fall von Marie sah es auch noch so aus, als habe Michel diese Narben, die vielleicht noch gar nicht so lange verheilt waren, wieder aufgerissen. Weil er dachte, er könne die eine lebenslange Lüge durch eine andere Lüge aus der Welt schaffen.
Aber da täuschten sich die Menschen. Lügen kann man nur mit einem einzigen Mittel heilen. Mit der Wahrheit.
6
Es war alles wie immer. Und doch war alles ganz anders.
Paris empfing Marie mit einem dieser wundersam leuchtenden Herbsttage, die sie so liebte. Noch saÃen die Menschen drauÃen in den StraÃencafés, um ihren Café au lait zu trinken. Touristen flanierten selig über die Champs Ãliseés, Studenten saÃen auf den Stufen, die zur Seine hinunterführten, und dösten in der noch warmen Sonne. Marie aber schien davon nichts wahrzunehmen. Reglos starrte sie auf die Stelle, an der Jean gestorben war. Zwei verwelkte Rosen lagen auf dem grauen Pflaster und ein Strauà weiÃer Lilien, deren Blüten schon dunkle Ränder hatten. Eine kleine Kerze flackerte im Wind neben einem Foto von Jean. Zeichen der ohnmächtigen Trauer, die die Menschen empfunden hatten ob Jeans so unnötigem Tod. Neben der tiefen, fassungslosen Trauer um den Freund und Kollegen empfand Marie auch eine bittere Schuld. Hätte sie es nicht verhindern können? Hätte sie nicht schneller sehen müssen, dass dieser Junkie eine Pistole bei sich hatte? Hätte sie Jean nicht daran hindern müssen, den Jungen zu verfolgen? Aber sie hatte einfach nicht erwartet, dass der Autoraser eine Waffe bei sich trug. Sie waren doch beide davon ausgegangen, dass sie einen Betrunkenen verfolgten, den sie nur aus dem Verkehr ziehen wollten. Sie hätten ihm den Führerschein abgenommen. Vermutlich hätte er die Nacht in einer Ausnüchterungszelle verbringen müssen. Wie hätten sie damit rechnen sollen, dass er gleich auf sie schieÃen würde? Die Erinnerung an die Schüsse dröhnte in
Weitere Kostenlose Bücher