Wilde Wellen
hatte schon dazu angesetzt, ihm ihre Hand zu entziehen. Aber dann rührte sie sich doch nicht. Sie schwieg, den Blick auf ihrer beide Hände gerichtet, die da auf dem Tisch lagen.
»Ich weià nicht genau, was du von mir willst, Paul«, sagte sie leise.
»Wirklich nicht?«
Sie sah auf. Sah das Lächeln in seinen blauen Augen. Und stand nun abrupt auf.
»Ruf mich an, wenn du wieder in Paris bist. Dann sehen wir weiter.«
Als sie das Lokal verlieÃen, war die Sonne schon untergegangen. Paris hatte sich in den Mantel der blauen Stunde gehüllt. Die ersten Lichter gingen in den Häusern an, der Abend senkte sich leise in die engen StraÃen. Irgendwo war noch der Tag zu spüren, der sich gerade verabschiedete. Letzte Sonnenstrahlen färbten ein paar Wölkchen am Himmel rosenrot.
»Au revoir, Paul, es war schön.«
Sie stand vor ihm und sah ihn mit traurigem Blick an.
»Ja. Ich bin froh, dass ich hergekommen bin, Marie.«
Sie sahen sich an. Stumm. Unschlüssig. Und jetzt doch verlegen. Wäre das ein richtiges Date gewesen, hätten sie sich in die Arme genommen und geküsst. Aber es war kein Date. Es war ⦠was war es gewesen? Ein ungeplantes, aber unvermeidliches Zusammentreffen?
»Pass auf dich auf, Marie. Und falls du mich sehen willst, du weiÃt â¦Â«
Sie nickte und drehte sich hastig um. Paul sah ihr noch einen Augenblick nach. Dann wandte auch er sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Aber dann geschah es. Das kleine Wunder. Es war ihm, als hätte er sie seinen Namen rufen gehört. Schnell drehte er sich um. Und er sah, dass Marie sich auch in diesem Moment umdrehte. Ãber die Autos hinweg, die den kleinen Platz in der Rushhour verstopften, trafen sich ihre Blicke. Und dann stand die Welt still. Sie gingen aufeinander zu. Ohne auf den Verkehr zu achten. Ãberquerten die StraÃe, bis sie sich mitten auf der Kreuzung trafen. Und sie warteten keine Sekunde mehr. Küssten sich einfach. Maries Arme schlangen sich um Pauls Hals, er zog sie so eng an sich, dass sie fast keine Luft mehr bekam. Sie hörten nicht das genervte Hupen der Autofahrer um sich herum, sahen nicht die amüsierten Blicke der Passanten, die sie beobachteten; sie versanken einfach ineinander. Es war, als hätten sie ihr ganzes Leben lang auf diesen Augenblick gewartet.
11
Maries Handy klingelte, als sie spät in dieser Nacht ihre Wohnungstür aufschloss. Sie nahm es aus der Tasche. Es konnte nur Paul sein, der sie anrief. Den sie vor weniger als einer Minute an der Tür ihres Hauses zum letzten Mal geküsst hatte. Doch sie sah auf dem Display, dass Michel versuchte, sie zu erreichen. Seit sie weg war, hatte er schon ein paarmal angerufen, doch sie hatte den Anruf nie angenommen. Was sollte sie mit ihm reden?
Sie legte das Telefon auf den Küchentisch. Das Klingeln hörte auf, und es war ganz still in der Wohnung. Sie öffnete die Tür zum Balkon, sah auf die Lichter der Stadt. Weit entfernt rauschte der nächtliche Verkehr. Ein wenig klang es wie das Rauschen des Meeres, das sie in ihrem kleinen Zimmer in Michels Haus in der Nacht gehört hatte.
Sie setzte sich auf die schmale Holzbank, zog die Knie an, massierte sich gedankenverloren die FüÃe. Das nächste Mal würde sie Turnschuhe anziehen, das war sicher. Das nächste Mal? Wieso war sie sich so sicher, dass es eine Wiederholung dieses wundersamen Tages geben würde? Vielleicht war das mit Paul heute ja nur passiert, weil er zum richtigen Moment am richtigen Ort gewesen war. Wenn Thomas nicht in London gewesen wäre, sondern sie stattdessen zu Jeans Grab begleitet hätte, hätte er es übernommen, sie zu trösten. Es war nur ein Zufall gewesen, dass Paul sie in dieser labilen Situation angetroffen hatte. Als sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, roch sie plötzlich den Duft von Pauls Rasierwasser. Sie hatte die Hand auf seine Lippen gelegt, als er sie wieder bat, ihn in Brest zu besuchen. Er hatte ihre Hand genommen und an seine Wange geführt. Sie spürte das leichten Kratzen seiner Bartstoppeln noch, als sie tief einatmete, als wollte sie die Erinnerung an die verzauberten Stunden, die sie mit diesem fremden Mann verbracht hatte, unverlierbar in sich einsaugen. Sie hatte keine Ahnung, was da gerade mit ihr geschah. Hätte sie ihn nicht gehen lassen sollen? Hätte sie ihn einfach mit in ihre Wohnung nehmen sollen, auf dass
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