Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
Moslem könne jeden Tag des Jahres in einer anderen Moschee beten. Ross und Burnes hatten festgestellt, daß dies übertrieben war, aber bestimmt gab es hier durchaus zweihundert Moscheen und Dutzende von religiösen Schulen.
Auf dieser Reise war es unmöglich, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die breite Straße, die vom Tor zum Palast führte, war vollgestopft mit Leuten, die anhielten und Ross anstarrten.
Ein Gesumme von Kommentaren über seine Kleidung, seine Farben und seine generelle Fremdheit erfüllte die Luft. Wie schon auf ihrer Reise durch die Karakum wirkten die Zuschauer eher neugierig als feindlich, und einmal rief ein junger Wasserträger, der sich an eine Hauswand drückte, um die Reiter passieren zu lassen, ein freundliches: »Salam aleikum!«
Ross lächelte und hob die Hand. »Und Friede sei mit euch!«
Der große öffentliche Platz vor dem königlichen Palast wurde »Registan« genannt. Ross erinnerte sich von seiner letzten Reise noch daran, denn der Platz war das Herz der Stadt, und im Tageslicht wimmelte es dort nur so von Menschen. In der Mitte befand sich ein großer Markt, unter dessen schattenspendender Überdachung Obst, Tee und Waren aus ganz Asien verkauft wurden, aber der Großteil des Volkes wollte vor allem plaudern, sehen und gesehen werden.
Die Vielfältigkeit der Menge war unglaublich. Die Mehrheit bestand entweder aus orientalischen Usbeken aus Bucharas herrschender Klasse oder Menschen von persischer Herkunft, die, wenn sie in Turkestan lebten, Tadschiken genannt wurden. Doch daneben war buchstäblich jede Rasse Asiens von Hindus über Uiguren bis zu Chinesen vertreten.. Die wenigen Frauen darunter waren von Kopf bis Fuß mit schwarzen Pferdehaarschleiern eingehüllt und ritten wie Männer auf ihren Reittieren.
Zwei Seiten des Registan waren von Medressen, religiösen Schulen, flankiert, an einer dritten hatte ein herrlicher, baumbeschatteter Springbrunnen Platz gefunden. Doch es war der gewaltige tausendjährige Koloß des Palastes, der die Szene dominierte. »Ark«, die Festung, genannt, erhob er sich drohend über dem restlichen Platz.
Am Eingang zum Palastbezirk stieg die ganze Truppe ab, und Juliet kam vor, um Ross die Zügel abzunehmen. Einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, und leise, durch den Lärm der Menge für andere unhörbar, sagte er: »Es ist soweit!«
Sie nickte. »Morgen um diese Zeit könnten wir auf dem Heimweg sein.«
Er bezweifelte, daß sie wirklich daran glaubte, aber theoretisch war es sogar möglich. Als sie die Rampe hinaufgingen, die zu dem mit Türmen versehenen Eingang führte, spürte Ross, wie sich die Haare im Nacken aufstellten. Dies war das erste Mal, daß er den Palast betrat, denn er und Burnes hatte keine Audienz beim Emir erbeten, aber er hatte schon viele Geschichten darüber gehört. Von einigen, die hineingegangen waren, hatte man angeblich nie wieder etwas gesehen.
Die äußere Form des Gebäudekomplexes ähnelte einem europäischen Schloß. Tatsächlich waren die großartigsten der mittelalterlichen Festungen von Steinmetzen gebaut worden, die während der Kreuzzüge sarazenische Architektur studiert hatten. Die gewaltigen Außenmauern umschlossen eine kleine Stadt von Gebäuden und geräumigen Höfen, wo sich königliche Diener und Sklaven bei ihren verschiedenen Aufgaben emsig hin und her bewegten.
Der Großkämmerer winkte nach einem Stallburschen, der die Pferde wegbringen sollte. »Es ist gängig, seinen Sklaven mit in den eigentlichen Palast zu nehmen, aber er muß still sein und darf keinen Ärger machen.«
Als Ross ein Lederkästchen aus seiner Satteltasche holte, fragte er Juliet auf Tamahak: »Meinst du, du kannst dich benehmen, Sklave? Vielleicht ist es besser, bei den Kamelen zu bleiben.«
»Ich möchte das auf gar keinen Fall verpassen«, murmelte sie, als sie ihm das Lederkästchen abnahm.
Das prachtvollste der Gebäude war natürlich der Palast. Eine breite Treppenflucht führte zum Eingang hinauf. Im Inneren schufen hohe Decken und Marmorböden einen kühlen Kontrast zu der flirrenden Hitze draußen. Schweigend führte der Kämmerer sie durch verschiedene Flure bis zu einem Zimmer, wo schon andere Bittsteller auf eine Audienz beim Emir warteten. Die meisten hatten ihre Sklaven dabei, und so fiel Juliet nicht weiter auf.
Ein noch reicher gekleideter Mann kam auf sie zu. Er war etwa sechzig Jahre alt und schien Perser zu sein. Zu Ross' Überraschung sprach er sie auf Englisch an: »Willkommen in
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