Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
immer noch, daß die Nichte von William Pitt, die im Mittelpunkt der britischen Politik lebte, der Gesellschaft einfach den Rücken zukehrte, um ihr eigenes Königreich in Syrien zu erschaffen.«
»In gewisser Hinsicht ist das höchst verständlich«, antwortete Ross nachdenklich. »Lady Hester war zum Regieren geboren worden, aber was sie an Einfluß besaß, rührte aus der Tatsache, daß sie die Nichte des Premierministers war. Nachdem Pitt gestorben war, gab es in England für sie nichts außer Ungewißheit, und das hätte sie verabscheut. Im Osten konnte sie genau das tun, was sie wollte, und sie besaß wieder Autorität.« Eifrig setzte Juliet hinzu: »Sie war unglaublich mutig. Kennst du die Geschichte, wie sie als erste Europäerin die Ruinen von Palmyra besucht hat? Sie hatte den Mut, sich absolut in die Hände und in den Schutz von Beduinenräubern zu begeben -« Abrupt brach Juliet ihren Monolog ab. »Tut mir leid ... du weißt das natürlich alles. Bitte erzähl mir, wie es war, sie zu treffen.«
»Ich war damals in Zypern und beschloß, in den Libanon überzusetzen, natürlich in der Hoffnung, daß Lady Hester mich bemerken würde. Schließlich hat man nicht allzu oft die Chance, eine lebende Legende kennenzulernen.«
Ross und Juliet hatten sich inzwischen ein gutes Stück von der Karawanserei entfernt, also setzten sie sich in stummem Einvernehmen auf ein Fleckchen weichen Sands vor einem Hügel, der sie vor dem Wind schützte. »Obwohl kein Besucher jemals abgewiesen wurde, weigerte Lady Hester sich oft, sie persönlich zu treffen. Aber ich hatte Glück - sie erinnerte sich aus ihrer Zeit in der Politik an meinen Vater und beschloß, mich zu empfangen.« Er grinste. »Es war wirklich ein Erlebnis. Obwohl Lady Hester fast sechzig war, war sie immer noch eitel genug, um sich nur nach Einbruch der Nacht bei anderen blicken zu lassen, da das Lampenlicht immer schmeichelhaft ist. Nachdem ihre Diener mir ein ausgezeichnetes Essen serviert hatten, ließ sie nach mir rufen.«
»Worüber habt ihr gesprochen?« forschte Juliet neugierig.
»Ich habe gar nicht gesprochen«, antwortete Ross trocken. »Meine Aufgabe lautete zuzuhören. Sie beschrieb mir den ganzen Abend ihre metaphysischen Theorien. Obwohl ihr Generalzustand nicht allzu gut war, hatte ihre Zunge nichts abbekommen. Ich wurde nicht vor der Dämmerung entlassen.«
»Ich habe gehört, daß Lady Hester eine großartige Rednerin war und so intelligent, daß Pitt behauptete, sie würde niemals heiraten, weil kein Mann mehr Verstand besäße als sie«, bemerkte Juliet. »Wie sah sie aus?« Dies war wohl eine typisch weibliche Frage. »Sie war eine beeindruckende Gestalt, sogar einiges größer als du. Sie trug die Gewänder eines türkischen Paschas und hatte ähnliche Allüren.« Ross wühlte in seinen Erinnerungen, um die interessanteren Aspekte ihres Aussehens und über ihre Festung von Djoun erzählen zu können, denn er war froh darüber, daß er Juliet von ihrem Kummer über ihren Bruder ablenken konnte. Juliet und Ian hatten sich genauso nah gestanden wie Ross und Sara, und obwohl sie sich wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, mußte Ians Tod ein gewaltiges Loch in ihrem Leben hinterlassen.
Während Ross redete, hielt er ein aufmerksames Auge auf das Profil seiner Frau, die ihm fasziniert lauschte. Den Schleier heruntergelassen, war ihr Gesicht wie eine blasse, reine Kamee gegen den schwarzen Samt des Himmels. Es lag bittere Ironie in der Szene: Hier saßen sie beide nun ganz allein in einem entfernten, exotischen Teil der Welt, und es war genau die Art von romantischem Erlebnis, das sie immer hatten teilen wollen. Und doch war es zu spät. Genau gesagt: zwölf Jahre zu spät.
Damals, als sie ihre Reise geplant hatten, waren sie davon ausgegangen, daß eine solche Szene in einer leidenschaftlichen Liebesnacht enden würde. Doch nun, da der langersehnte Traum endlich wahr geworden war, hatten sie sich so sehr entfremdet, daß Romantik unmöglich schien.
Dennoch dachte Ross darüber nach. Und er erkannte, daß er sie ziemlich sicher anfassen würde, wenn er sich nicht sofort bewegte. Er stand abrupt auf und klopfte sich den Sand aus den Kleidern. »Für heute abend ist es genug von Lady Hester.« Seine Hand ballte sich zur Faust, als er si ch mühsam zurückhielt, sie zu streicheln. »Wir sollten jetzt schlafen. Die Dämmerung kommt früh genug.« Geschmeidig sprang Juliet auf die Füße. Als sie sich auf den Rückweg
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