Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
Schatten praktisch unsichtbar sein. Dennoch weigerte sie sich, ihm die Befriedigung zu geben, indem sie nachfragte, wie es ihm gelungen war. Als er nur noch ein paar Schritte entfernt war, fragte sie auf englisch: »Stimmt etwas nicht, Ross?«
»Ich fürchte, so ist es.« Mit ausdruckslosen, unumwundenen Worten erzählte er ihr, was der Kafila-Bashi über den Ferengi gesagt hatte, dessen Exekution er gesehen hatte.
Juliet akzeptierte die Neuigkeiten mit stoischer Ruhe, denn es war nicht wirklich eine Überraschung. Doch als Ross ihr den körperlichen Zustand des Mannes beschrieb und die Art, wie er in den Tod gegangen war, zog sie unweigerlich scharf und gequält die Luft ein.
»Es tut mir leid, Juliet«, schloß Ross mit fast unhörbarer Stimme.
»Leider wird Ians Tod dadurch real«, gab sie zurück, wobei sie um ihre Haltung kämpfte. »In meiner Erinnerung ist er immer noch zwanzig und voller Energie und Lebensfreude. Ihn mir ausgezehrt vorzustellen, gefoltert vielleicht und so schwach, daß er kaum auf den Füßen stehen kann . . . das erscheint mir so falsch.« Sie zitterte plötzlich. »Als wir noch klein waren, wünschten wir uns beide, die ganze Welt zu sehen und alles zu wagen, was gewagt werden konnte. Und nun ist lans Zeit des Abenteuers vorbei, blutig beendet vor einer Menge neugieriger Fremder.«
Ihre Stimme brach. Das Bild ihres Bruders, wie er litt, hatte das frühere von ihm als kraftvollen, gesunden Mann ersetzt, und sie konnte es nicht mehr rückgängig machen. Wie betäubt fragte sie sich, ob das die Art war, wie Abenteuer gewöhnlich endeten - in Qualen und in sinnlosen Tragödien, und das Tausende von Meilen von zu Hause entfernt.
Ross berührte ihre Schulter in wortlosem Trost. Sein Mitgefühl riß fast nieder, was ihr an Beherrschung geblieben war. Juliet senkte den Kopf, vergrub ihr Gesicht in den Händen und wollte nur noch weinen: Um den Tod ihres Bruders, über die Vergänglichkeit von Jugend und Hoffnung, um den Tod der Liebe. Um letzteres am allermeisten.
Zornig wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Dann hatte sie plötzlich das Bedürfnis nach mehr Luft, zog den Schleier nieder und ließ den Wind zum ersten Mal seit vielen Stunden ihr Gesicht liebkosen.
»Möchtest du die Reise aufgeben?« fragte sie, als sie ihrer Stimme wieder trauen konnte. »Wenn wir umkehren wollen, ist jetzt die richtige Zeit dazu.«
»Ich habe es in Erwägung gezogen«, antwortete Ross bedächtig. »Aber auch wenn Abdul Wahab bei der Exekution dabei gewesen ist, wissen wir immer noch nicht, warum Ian umgebracht wurde. Dieses Wissen könnte sowohl für die Regierung als auch für deine Familie nützlich sein, und wir können es nur herausfinden, wenn wir nach Buchara gehen. Dazu kommt, daß es für deine Mutter sehr viel bedeutet, wenn Ians Leiche zum Begräbnis nach Schottland überführt werden könnte.«
»Mir würde es auch sehr viel bedeuten.« Juliet wollte noch mehr hinzufügen, aber ihre Kehle zog sich zusammen, und sie brachte kein Wort mehr hervor.
»Komm, gehen wir ein Stück spazieren, bevor wir zurück müssen.« Leicht legte er ihr die Hand auf den Rücken und führte sie in die Wüste hinaus.
Als sie nebeneinander her gingen, fragte sie sich, ob Ross sich überhaupt bewußt war, daß er sie berührte. Wahrscheinlich nicht, denn die Geste hatte die beiläufige Vertrautheit eines alten Freundes, ohne jegliche Erotik darin. Ganz im Gegensatz zum Abend zuvor, als zwischen ihnen die Leidenschaft Funken gesprüht hatte.
Und sie spürte sie jetzt noch, die Leidenschaft. Den ganzen Tag war sie sich der Nähe ihres Mannes fast schmerzhaft bewußt gewesen. Doch sie fühlte, daß er sein Verlangen unterdrückt hatte, und das offenbar so gründlich, als hätte er eine Lampe gelöscht. Daß er das konnte, überraschte sie nicht. Sie hatte es viel erstaunlicher gefunden, daß er sie zuerst begehrt hatte. Sie hatte es mit siebzehn nicht begreifen können, und nun hatte sie noch mehr Schwierigkeiten damit. Aber weil er der einzige Mann gewesen war, der ihr jemals das Gefühl gegeben hatte, wirklich begehrenswert zu sein, frustrierte seine Zurückweisung sie nun gewaltig.
Gott sei Dank empfanden sie noch Sympathie füreinander, auch wenn diese nur ein schwacher Abklatsch von dem war, was sie früher aneinander gebunden hatte. Und gerade in dieser Nacht, da sie mit dem Bild ihres sterbenden Bruders zu kämpfen hatte, brauchte sie seine Nähe dringend.
Nach einigen Minuten
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