Wilder Oleander
inzwischen verheiratet und hatte weitere Kinder. Sie zeigte mir Fotos von ihnen. Ihre Töchter sahen aus wie meine Zwillinge. Auch ein Foto von sich zeigte sie mir, als Achtzehnjährige – das hätte ich sein können. Aber außer der verblüffenden Ähnlichkeit verband uns nichts. Sie hat mich nie geliebt, weder damals noch irgendwann. Also verabschiedete ich mich und ließ sie in der Vergangenheit zurück.«
»Das tut mir sehr Leid«, sagte Abby zu Sissy und auch zu sich selbst. Mrs.Whitboro war nicht ihre Tochter.
»Schon gut. Seit ich hier in The Grove bin, finde ich ständig etwas Neues über mich heraus. Ich bin stärker als ich dachte. Ms. Tyler, ich weiß nicht, wie es dazu kam, dass ich dieses Preisausschreiben gewonnen habe, aber ich bin unheimlich froh, dass ich den Preis eingelöst habe.«
Abby bot einen Nachtisch an – mit heißem Schokosirup übergossenen Schokoladenkuchen –, aber Sissy lehnte ab, wollte erst später in ihrem Häuschen ein Dessert zu sich nehmen.
Nachdem sie gegangen war, machte sich Abby genüsslich über ein Stück des kalorienreichen Kuchens her. In gewisser Weise war sie enttäuscht, aber dennoch weiterhin optimistisch. Sissy war nicht ihre Tochter. Blieb noch Ophelia. Und wenn sie es recht bedachte, war die Ähnlichkeit nicht zu übersehen.
Schade nur, dass Ophelia bisher keiner Einladung gefolgt war, nicht einmal zum Kaffee. Abby überlegte, ob sie sie nicht in ihrer Suite aufsuchen sollte, als ihr einfiel, dass sie dort auch Ophelias Verlobtem begegnen würde. Er hatte vormittags angerufen und sich auf einem der Zubringerflüge einen Platz
reservieren lassen. Er wolle seine Verlobte überraschen, hatte er gesagt. Da wollte Abby natürlich nicht stören, jedenfalls nicht heute Abend. Aber morgen könnte sie anrufen und die beiden zum Frühstück einladen.
Sie trug den Dessertteller in die kleine Küche. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, bemerkte sie auf dem Fußboden einen Umschlag. Er war unter der Tür durchgeschoben worden.
Ein gewöhnlicher weißer Umschlag, ohne Anschrift oder Absender. Zugeklebt. Sie wollte ihn gerade öffnen, als jemand an der Tür klopfte.
Es war Jack. Wieder durchfuhr es sie heiß, als er so unerwartet vor ihr stand.
»Ist der von Ihnen?«, fragte sie und hielt den ungeöffneten Umschlag hoch.
»Nein.«
Sie sah sich prüfend nach allen Seiten um. Der weiße Oleanderbusch am Eingang des Bungalows wiegte sich in der leichten Wüstenbrise. »Ist Ihnen jemand entgegengekommen?«
Er schüttelte den Kopf. »Was haben Sie denn da?«
»Weiß ich nicht. Es wurde mir eben unter der Tür durchgeschoben. Kommen Sie doch rein.«
Er blieb auf der Türschwelle stehen. »Ich wollte mich nur für mein Benehmen heute Morgen entschuldigen. Es war unfair von mir, derart grob zu werden. Ich war zwar wütend, hätte das aber nicht an Ihnen auslassen sollen.«
Nach seinem Ausflug mit Zeb in die Wüste hatte Jack es eilig gehabt, das Gespräch mit Abby zu suchen, um ihrem Akzent nachzuspüren. Aber sie hatte sich um diverse Angelegenheiten im Resort kümmern müssen und war zum Abendessen bereits verabredet gewesen.
Ging sie ihm absichtlich aus dem Weg?
Blieb nur eins übrig: Zu ihrem Bungalow zu gehen und dort zu klopfen.
Als sie jetzt zu ihm aufblickte, funkelte Mondlicht in ihrem Blick – ein warmes Funkeln, wie Jack befand. Abby Tyler war wohl die Einzige, die es verstand, Mondlicht warm erscheinen zu lassen. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte sie. »Was Ihrer Schwester zugestoßen ist, ist ungeheuerlich. Ich kann verstehen, dass es Ihnen schwer fällt, darüber zu sprechen.«
Und da war er, genau wie Zeb vermutet hatte: der Hauch eines Südstaaten-Akzents. Als ob sie sich bemühte, ihn zu unterdrücken.
Nach seiner Rückkehr vom Ausflug in die Wüste hatte Jack ein Fax der Gemeindeverwaltung vorgefunden, aus dem ersichtlich wurde, dass es sich bei dem Vorbesitzer von The Grove um einen gewissen Sam Striker handelte. Ein kurzer Anruf beim Standesamtsregister, und Jack hatte, was er brauchte. Samuel E. Striker und Abilene Tyler. Eheschließung 1988 auf dem Bezirksgericht in Los Angeles.
Als Geburtsort war Bakersfield, Kalifornien, vermerkt, aber ein Anruf bei der zuständigen Verwaltung hatte ergeben, dass kein Eintrag für ein Baby dieses Namens verzeichnet war. Sie musste woanders geboren sein, in einer Stadt, die sie verschwieg.
Als sie ihm jetzt vorschlug, mit einem Spezialisten über Nina zu sprechen – sie kenne da einen
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