Wilder Oleander
ausgezeichneten Therapeuten –, lauschte Jack der betont gepflegten Ausdrucksweise von jemandem, der sich bemüht, einen Akzent zu überspielen. Nein, wie aus den Südstaaten klang er nicht. Nicht unbedingt. Eher texanisch, jede Wette. Schon weil mit einem Mal alles zusammenpasste.
Abilene. Tyler. Zwei Städte in Texas.
»Das war’s dann auch schon«, sagte er. »Ich wollte nur sagen,
dass es mir Leid tut.« Als sie ihn abermals zum Nähertreten aufforderte, sah er hinter ihr im Wohnzimmer, auf dem Schreibtisch mit dem Rollschrankaufsatz, den Stapel Akten. Warum machte ihm Abby weiterhin etwas vor? Warum behauptete sie, Nina nicht zu kennen, wenn sie andererseits Unterlagen über sie besaß? Am liebsten hätte Jack sie schnurstracks zur Rede gestellt, hätte dies nicht unter Umständen seine Ermittlungen gefährdet. Steckte Abby Tyler möglicherweise mit dem Mörder unter einer Decke? Dann konnte sie ihn warnen und man würde ihm nie auf die Spur kommen.
Deshalb verabschiedete sich Jack. Er wollte so schnell wie möglich Abbys Bannkreis entfliehen, auch wenn er gern geblieben wäre, um sich verzaubern zu lassen. Mit gemischten Gefühlen blickte Abby ihm nach. Wie sie sich eingestehen musste, begehrte sie Jack zusehends heftiger, wollte ihm in seinem Kummer beistehen. Aber sie dachte auch an Ophelia, ihre Tochter, an den Flug, den sie in zwei Tagen von The Grove antreten musste, und an die unbekannte Zukunft, die sie erwartete und die ihr Angst einflößte.
Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, fiel ihr der mysteriöse Umschlag wieder ein. Sie riss ihn auf und entnahm ihm einen Zeitungsausschnitt jüngeren Datums. Mit gerunzelter Stirn begann sie zu lesen:
»Wie die Strafvollzugsbehörden in Kalifornien am Montag bekannt gaben, wurde Darryl Jackson, ein vor zweiunddreißig Jahren entflohener Sträfling, in der vergangenen Woche in Maryland gefasst.«
Allmählich dämmerte es Abby, worauf der Artikel anspielte:
»Jackson, 62 , war einer der am längsten Flüchtigen in Kalifornien und hatte kaum mehr als fünf Monate einer fünfzehnjährigen Strafe abgesessen … «
Sie überflog den Schluss des Artikels:
»Lediglich zwei kalifornische Häftlinge sind noch länger als Jackson auf der Flucht. Der eine entkam 1965 , der
andere 1966 . Insgesamt sind es 296 Flüchtige, die von den Bundesbehörden gejagt werden.«
Abbys Blut gefror zu Eis, als sie die Kritzelei in roter Tinte quer über dem Zeitungsausschnitt entzifferte:
»Du bist die Nächste.«
Kapitel 34
»Wie sich ein Mann einer Frau gegenüber im Bett verhält, sagt viel über ihn aus. Dieser da, Coco, ist jedenfalls krank!« Coco schreckte hoch, versuchte sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, tastete nach der Nachttischlampe, knipste sie an und schaute auf die Uhr. Acht Uhr abends. Dann erinnerte sie sich wieder, dass sie sich zur Linderung ihrer Kopfschmerzen nachmittags hingelegt hatte. Schlimm genug, dass im Schlaf eine böse Erinnerung zurückgekehrt war, eine, wie sie geglaubt hatte, längst abgehakte Geschichte zwischen ihrer Schwester und einem Mann, mit dem sie befreundet gewesen war und der im Bett abscheuliche Dinge mit ihr angestellt hatte. Allein der Gedanke daran ließ Coco auch heute noch erschauern.
Und dann fiel ihr ein:
Kenny hätte nie die Chance zu vergessen
.
Sie stellte sich unter die Dusche und überlegte, wohin sie zum Abendessen gehen sollte. Das Foto von Kenny neben der Straßenbahn ging ihr nicht aus dem Kopf, Kenny mit seinen dreihundertfünfzig Pfund und nicht als der zu erkennen, den sie hier in The Grove erlebte.
Ein gequälter Mann, der vor dem Leben zurückschreckte und dem seine Schwäche zu schaffen machte. Ein Mann, dem es unmöglich war, unangenehme Erinnerungen zu verdrängen, sie nicht mehr hochkommen zu lassen. Der Gedanke, sich an alles Üble, an jede negative Erfahrung, an jede grauenhafte Situation in ihrem Leben zu erinnern, war für Coco entsetzlich.
Durchdrehen würde sie, wenn dem so wäre. Sie hätte Kenny am liebsten in die Arme genommen und ihm gesagt, alles würde gut werden. Sie wünschte sich, ihn die ganze Nacht lang und über die kommenden Tage hinweg mit zärtlichen Liebesbeweisen zu verwöhnen, ihn immer und immer wieder mit ihren Küssen zu beschwichtigen und nie damit aufzuhören.
Wenn aber Kenny ein für alle Mal hier blieb, wie konnte ihnen dann eine gemeinsame Zukunft beschert sein?
Noch unter dem belebenden Strahl der Dusche traf Coco eine Entscheidung. Heute Abend würde sie den so wenig
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