Wilder Oleander
Zorn. Stephen, der seine Mutter genau kannte, hatte versprochen, dafür zu sorgen, dass sie nach der Hochzeit keine Gelegenheit mehr bekam, sich in ihre junge Ehe einzumischen.
Aber Schwiegermütter verstanden es, Einfluss auf ihre Söhne auszuüben …
Es klopfte an der Tür. Ein Dienstmädchen überbrachte ein Päckchen für Mike Fallon, das per Eilboten zugestellt worden war und den Vermerk »Dringend« trug. Als Absender war ein Arzt aus Miami, Florida, angegeben. Francesca legte das Päckchen beiseite und schälte sich vorsichtig aus dem Brautkleid. Erst als Mrs.Vandenberg und die Schneiderin gegangen waren, schaute sie sich die Postsendung näher an. Und runzelte die Stirn.
Ihr Vater befand sich auf einer Geschäftsreise, zusammen mit Onkel Uri. Die beiden würden erst abends wieder zurücksein. Wie dringend war es also, dass das Päckchen an den Adressaten gelangte? In der Annahme, stellvertretend für den Vater handeln zu können – sie erledigte häufig genug juristische Angelegenheiten für ihn –, riss sie es auf.
Was zum Vorschein kam, war zum einen ein Totenschein, ausgestellt auf eine gewisse Lucy Fallon, zum anderen ein versiegelter Umschlag mit der in Schönschrift abgefassten Weisung
Nach meinem Ableben meinem Sohn Michael Fallon aus Las Vegas, Nevada auszuhändigen.
Francesca war verdutzt. Daddys Mutter?
In der Annahme, es müsse sich um eine Verwechslung handeln, griff sie zum Telefon und wählte die Nummer auf dem Briefkopf des Totenscheins. Die Krankenschwester, die sich meldete, sagte, der Arzt, den Francesca zu sprechen wünsche, sei übers Wochenende verreist.
»Es geht um Mrs.Fallon und die näheren Umstände ihres Todes.«
»Sind sie eine Verwandte?«
»Michael Fallon ist mein Vater«, erklärte Francesca und erwartete, die Schwester würde sagen, dieser Name sei ihr nicht bekannt, es müsse sich um eine Verwechslung handeln.
Stattdessen erwiderte die Schwester: »Wir haben versucht, Mr.Fallon zu erreichen. Seine Mutter hatte nach ihm verlangt, und der Arzt hoffte, er würde noch rechtzeitig hier eintreffen.«
Francesca legte auf. Sein Vater besaß noch eine Mutter, in einem Pflegeheim in Florida? Und sie hatte all die Jahre hindurch eine Großmutter gehabt, ohne es zu wissen?
Weshalb nicht?
Weitere düstere Fragen drängten sich Francesca auf. Immer wieder auftauchende Gerüchte, Tuscheleien über lange zurückliegende
angebliche Verbindungen des Vaters zur Unterwelt. Sie hatte sie als den für Las Vegas typischen Klatsch abgetan, nicht anders als das Märchen, Elvis würde noch leben. Jetzt aber kamen ihr Zweifel …
Der Vater hatte nicht gesagt, wohin er fuhr, auch keine Telefonnummer hinterlassen, unter der er zu erreichen war. Nicht einmal an Onkel Uri konnte sie sich wenden, weil der ja ihren Vater begleitete.
Es gab nur eine Möglichkeit, die Angelegenheit zu klären. Francesca rief unten an, um ihren Wagen vorfahren zu lassen, griff sich ihre Handtasche, die Schlüssel und den versiegelten Umschlag und machte sich auf zum McCarran-Flughafen.
Ihre kleine Cessna 172 war im selben Hangar wie der Learjet ihres Vaters untergebracht. Sie erfuhr, dass Mr.Fallon und Mr.Edelstein in die Mojavewüste geflogen seien, an einen Ort namens The Grove. Der Name sagte ihr etwas. Nach einem gründlichen Check ihres Flugzeugs startete sie in südlicher Richtung, nicht ohne sich zu fragen, warum sie das eigentlich auf sich nahm, warum sie die Angelegenheit nicht auf sich beruhen ließ, bis ihr Vater zurück war.
Aber sie wusste, warum sie es tat. Morgen fand ihre Hochzeit statt, und sie wollte nicht, dass dieser Tag von einer Wolke von Geheimnissen überschattet war.
Mit quietschenden Reifen brachte Stephen Vandenberg seinen Maserati am Hangar zum Halt. Er hatte erfahren, dass Francesca hier war, und musste sie umgehend sprechen. Etwas Unvorhergesehenes hatte sich ereignet. Da Francesca nach Auskunft der Mechaniker mit ihrer Maschine nach einem Ort namens Grove unterwegs war, galt es, Hals über Kopf eine Entscheidung zu treffen.
Was Stephen Ophelia zu sagen hatte, duldete keinen Aufschub.
Nach einem Blick auf die Straßenkarte kam er zu dem Schluss, dass er, wenn er richtig Gas gab, in drei Stunden in The Grove sein konnte. Nicht um früher dazusein als Francesca, aber doch hoffentlich noch rechtzeitig, damit sie die Hiobsbotschaft von ihm persönlich und nicht von ihrem Vater erfuhr.
Francesca näherte sich ihrem Ziel, als unerwartet plötzlich ein Sturm aufzog
Weitere Kostenlose Bücher