Wilder Oleander
»Danke, Doc« nahm Fallon die Unterlagen entgegen. »Wir sollten mal zusammen essen gehen. Einverstanden?«
Die Limousine hielt vor der Kirche. Gemessenen Schritts stieg Mike Fallon die steinernen Stufen empor, um sich dann im Inneren des Gotteshauses verstohlen nach dem Beichtstuhl umzuschauen.
Als Kind hatte er auf Druck seiner Mutter jeden Samstag zur Beichte gehen müssen, um tags darauf die Kommunion empfangen zu dürfen. Niemals war sie dahintergekommen, dass der kleine Mikey Fallon seinem Beichtvater Lügengeschichten aufzutischen pflegte. Ihm etwa ehrlich Rede und Antwort stehen und somit riskieren, dass der Geistliche ihn bei seiner
Mutter verpfiff oder gar an die Bullen? Ausgeschlossen. Mit achtzehn hörten seine Kirchenbesuche ganz auf; erst nach Francescas Geburt fing er allmählich wieder an, in die Messe zu gehen. Aber nicht zur Beichte.
Jetzt aber musste es sein. Morgen fand für Francesca die verdammt größte katholische Trauungsmesse statt, und was würde es für einen Eindruck machen, wenn sämtliche Katholen den Gang entlang zum Altar zogen, um die Hostie in Empfang zu nehmen und nur der Brautvater wie ein Sünder in seiner Bank verharrte? Gewiss, die Beichte nannte sich heute anders als zu seiner Kindheit – Sakrament der Versöhnung –, musste aber nach wie vor durchgestanden werden. Vor dem Beichtstuhl warteten bereits ein paar Gläubige, vornehmlich Ältere, die nichts von einem Sündenbekenntnis ohne Gegenwart eines Priesters hielten. Wenn seine Mutter noch lebte, würde sie ebenfalls dort knien, den Kopf mit einem Tuch bedeckt. Aber Lucy war tot. Fallon hatte am Abend zuvor einen Anruf aus Miami erhalten – sie war, wie es aussah, einer Herzattacke erlegen.
Damit hatte sie das Geheimnis um die Identität seines Vaters mit in den Tod genommen. Was auch sein Gutes hatte: Francesca würde niemals die Wahrheit erfahren, und seine Tochter vor seiner Vergangenheit zu beschützen war genau das, wofür Michael lebte.
Als die Reihe an ihm war, schlüpfte er durch den Vorhang in das kleine und stickige Kabuff. Als sich hinter der Trennscheibe undeutlich die Umrisse von Pater Sebastian abzeichneten, bekreuzigte sich Mike Fallon und flüsterte: »Segnen Sie mich, Pater, denn ich habe gesündigt. Meine letzte Beichte war vor vierzig Jahren. Was ich mir habe zuschulden kommen lassen, bekenne ich wie folgt.«
Abends zuvor hatte Fallon eine seiner Meinung nach faire und ehrliche Rückschau auf sein Leben gehalten. Was immer
er getan hatte, war Francesca zuliebe geschehen. Würde der Geistliche das verstehen? Wenn man zum Besten seines Kindes handelte, war das dann trotzdem eine Sünde? »Ich habe ein paarmal die Sonntagsmesse versäumt. Hin und wieder geflucht. Vielleicht auch den Namen Gottes verunehrt, aber nur, weil ich dazu gezwungen war.« Über seine sonstigen Verfehlungen – dass er gestohlen, Unzucht getrieben, gelogen und gemordet hatte – schwieg er sich aus. Die gehörten nun mal zum Geschäft.
Sein Handy klingelte. »Verzeihung, Pater«, murmelte er und drückte auf die Empfangstaste. »Jesus!«, entfuhr es ihm. Abby Tyler hatte sich bei ihm gemeldet. Wünschte ihn zu sprechen.
Er sagte, er käme in seinem Privatjet. Kaum war das Gespräch beendet, rief er einen Kontaktmann an, der wiederum Fallons Mann in The Grove anrufen und ihn von seinem Auftrag entbinden sollte. Fallon hatte beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Genauso wie er auch mit den Vandenbergs zu verfahren dachte.
Dann rief er den McCarran-Flughafen an und ordnete an, seinen Jet startbereit zu machen und den Piloten zu benachrichtigen. Michael wollte gar nicht erst ins Atlantis zurück, sondern diese letzte Schwachstelle sofort bereinigen.
Kapitel 47
Mehr als alles andere wünschte sich Jack, jetzt mit Abby zusammen zu sein. Sie im Arm zu halten, sie zu küssen, ihr zu sagen, wie dankbar er sei. Ein halbfertiger Brief an Nina lag auf seinem Schreibtisch. Nicht vollkommen, aber zumindest ein Anfang. Und vor allem ging es ihm darum, Abby zu sagen, wie sehr er sich wünschte,
sie
um sich zu haben. Aber Abby genoss das Wiedersehen mit ihrer Tochter, und da wollte er sich nicht aufdrängen.
Während er seinen Bogen auseinander nahm und verstaute, sann er über die Zukunft nach. Wie sich doch alles verändert hatte! Völlig neue Perspektiven taten sich für ihn auf, über die er erst einmal nachdenken, die er ausloten musste. Ganz klar, er war nicht mehr der, der vor fünf Tagen nach The Grove
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