Wilder Oleander
angenommen hatte. Auch an all die anderen Gräber in der Wüste um Las Vegas dachte er.
Nicht zuletzt an das kleine Grab von Gayanes totem Baby hinter einem billigen Motel auf dem Highway 91 .
Er richtete die Stablampe auf den Geröllberg. Wo am sinnvollsten graben? Der Lichtkegel fiel auf etwas Weißes auf dem Boden: auf den Umschlag, den er auf dem Passagiersitz der Cessna entdeckt und völlig vergessen hatte.
Er riss ihn auf, überprüfte im schwindenden Licht der Stablampe seinen Inhalt. Er enthielt einen Totenschein, den Tausend-Dollar-Jeton und einen Brief.
Lucy Fallons letzte Worte, drei Monate zuvor einer Krankenschwester diktiert:
»Mein geliebter Sohn, ich bin alt und habe nicht mehr lange zu leben. Der Priester hat mir die Beichte abgenommen. Ich bin bereit, vor Gott zu treten. Den Jeton bekam ich in der Nacht, in der ich dich empfing. Er ist ein Geschenk deines Vaters, dessen Namen ich dir verschwiegen habe, weil ich nicht wollte, dass du in seine Fußstapfen trittst. Du hast es auch so getan. Du bist ihm, diesem charmanten und durchtriebenen Mann, sehr ähnlich. Ich bereue nicht, was damals im Dezember, während der Eröffnungsgala des Flamingo-Hotels, geschah. Ich war jung, unerfahren und geblendet. Er hat mich verführt.
Du möchtest von mir hören, dass dein Vater Bobby Bavacua war oder Tony Cuzamano, Männer, deren Namen etwas galten. Aber der Mann, der dich gezeugt hat, war Benjamin Siegel, das Ungeheuer, das alle Bugsy nannten. Als ich ihm sagte, ich sei von ihm schwanger, lachte er mich aus und ließ mich rausschmeißen.«
Fallon starrte verblüfft vor sich hin. Noch mehr Sand rieselte herab, unaufhaltsam jetzt.
Bugsy Siegel, der berühmteste Kopf der jüdischen Ganoven! Zum Totlachen. Michael Fallon mit seinem Armani-Anzug, den Bruno-Magli-Slippers, der italienischen Krawatte und Armbanduhr, das Haar von einem gewissen Scorcese in Form gehalten, Michael Fallon, der sein Leben lang den stolzesten Italiener überhaupt markiert hatte, sagte sich jetzt:
Wahrlich ein dicker Hund. Bin ich doch glatt all die Jahre in die falsche Kirche gegangen.
Ein größerer Teil der Decke gab nach, Sand und Geröll ergossen sich auf Fallon. »Nicht!«, schrie er und fing wieder an zu buddeln, krallte sich an Steine und Schutt, wühlte im Geröll herum, bis seine Hände zerschunden und blutüberströmt waren.
Francesca!,
schluchzte er auf. Seine Lungen füllten sich mit Staub, seine Brust schmerzte.
Wir werden zusammen
weggehen und vergessen, was hier geschehen ist …
Ein dicker Brocken löste sich von der Decke und traf ihn am Hinterkopf. Fallon sah Sterne und Planeten. Er brach auf dem immer größer werdenden Geröllhaufen zusammen und blieb dort liegen. Blut rann auf den Sand um ihn herum, alles schmeckte nach Blut und Sand, dann erlosch die Lampe und Dunkelheit umfing ihn.
Als er in diese Grabesfinsternis eintauchte und der Sand immer mehr seine Lungen verklebte, gestand er sich ein, dass ihn das nicht sonderlich überraschte. Michael Fallon hatte die Wüste seit eh und je gehasst. Und nachdem er sich achtundfünfzig
Jahre gegen sie aufgelehnt hatte, fand er sich damit ab, dass die Wüste schließlich gewonnen hatte.
Der Sandsturm war weitergezogen. Suchtrupps und Rettungsmannschaften des Sheriffs von Riverside County durchsuchten die Höhlen nach Michael Fallon. Unter den freiwilligen Helfern befand sich auch ein junger Mann, der unter dem Namen Pierre in The Grove gearbeitet hatte. Den Anruf, dass sich sein Nebenjob erledigt habe, hatte er gelassen hingenommen. Schon weil er sich mit dem Gedanken trug, nicht länger als Auftragskiller tätig zu sein, sondern seine Manneskraft ganz in den Dienst des Resorts zu stellen. Die Damen hier zeigten sich ja so ungemein erkenntlich.
Vanessa saß dabei, als die Krankenschwester von The Grove Francescas Kopfverletzung verarztete. Sie dachte zurück an die Nacht, da das Baby im Gefängnis zur Welt gekommen war. Wie lange es gedauert hatte, bis Mutter und Tochter endlich wieder zueinander gefunden hatten!
Sie schielte hinüber zu Abby, die dem Sheriff Rede und Antwort stand. Welch Ironie des Schicksals, dass ihre Freundin sich ungeniert mit einem Gesetzeshüter unterhielt.
Wie weit wir es doch seit den Tagen in White Hills gebracht haben.
Für Vanessa war es immer wieder ein Wunder, mit welchen Überraschungen das Leben aufwartete.
Sie und Zeb hatten vor, nach Afrika zu gehen. Als sie sich zum ersten Mal geliebt hatten – das war, bevor Fallon
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