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Wilder Oleander

Wilder Oleander

Titel: Wilder Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathryn Harvey
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beschrieb sein phänomenales Gedächtnis, dann forderte er sein Publikum auf, Listen mit zwanzig Wörtern anzufertigen. Deshalb also der Notizblock nebst Bleistift, den Coco erst jetzt auf ihrem Tisch entdeckte. Sie sah, wie die anderen eifrig zu schreiben begannen, und war gespannt darauf, mit welchen Begriffen sie aufwarten würden. Eine derartige Vorstellung hatte sie noch nie erlebt.
    Eine rundliche Frau in geblümtem Kleid stand auf und las von ihrer Liste ab: »Jezabel, Magdalena, Elisabeth, Eva … « Alles Namen aus der Bibel. Als die Frau geendet hatte, wiederholte Mr.Superhirn ihre Auflistung Wort für Wort, fehlerlos und ohne auch nur ein einziges Mal zu stocken.
    Applaus brandete auf.
    Als Nächstes war, nach zweimaliger Aufforderung, ein Mann
mit spiegelblanker Glatze an der Reihe: »Falke, Pinguin, Bussard, Pfau … « Coco war sich sicher, dass Mr.Superhirn diesmal ins Schleudern geraten würde. Fehlanzeige. Ohne zwischendurch Atem zu holen, ratterte er die zwanzig Worte herunter. Stürmischer Applaus.
    Cocos Interesse war geweckt. Weitere Zuschauer standen auf und lasen vor, was sie notiert hatten, und jedes Mal waren die Begriffe zungenbrecherischer und ausgefallener als die vorhergehenden. Aber Mr.Superhirn übersprang weder ein Wort noch eine Silbe. Wie machte er das nur?
    Coco griff zum Bleistift und schrieb drauflos.
    Nachdem eine Frau es ebenfalls nicht geschafft hatte, Mr.Superhirn mit einer Litanei Obst und Gemüse aufs Glatteis zu führen, hob Coco gar nicht erst die Hand, um aufgerufen zu werden, sondern stand einfach auf und sagte: »Jetzt ich!«
    Der Scheinwerfer richtete sich auf sie, alle Köpfe wandten sich nach ihr um. Sie räusperte sich und fing an: »Satz, Fratz, Latz, Hatz, Ball, Fall, Knall, Drall, Fell, hell, Quell, grell, Grill, still, Dill, Drill, Kind, Rind, Spind, Wind.« Als sie geendet hatte, ging ein Kichern durchs Publikum. Coco schloss daraus, dass allgemein angenommen wurde, Mr.Superhirn würde auch diesmal der Herausforderung trotzen, aber als sie ihn anschaute, entdeckte sie etwas auf seinem Gesicht, was sie vorher nicht bemerkt hatte: leise Bewunderung.
    Gewandt wiederholte er ihre Worte, stockte aber ganz kurz zwischen »grell« und »Grill«, und als er geendet hatte, heimste er weniger Beifall ein.
    Noch während des eher höflichen Applauses richtete Mr.Superhirn den Blick durch den voll besetzten, schwach erleuchteten Raum auf Coco, in deren Augen sich die kleine Kerze in der rubinfarbenen Kugel spiegelte, und sie spürte über die Distanz hinweg seine unmittelbare Nähe, sah, wie sich seine Lippen zu einem wissenden Lächeln verzogen. Ihr Herz vollführte
einen Purzelbaum. Und mit einem Mal stellte sie fest, dass er wirklich gut aussah, eher niedlich denn schön und dazu ach so sexy in seinem schwarzen Smoking, der Fliege, dem rot gefütterten Cape und Zylinder. War er etwa, überlegte Coco, derjenige welcher?
    Kurz entschlossen ging sie nach der Vorstellung hinter die Bühne und stellte sich ihm, als er auf seine Garderobe zusteuerte, in den Weg. Da er keinen Zylinder mehr trug, wirkte sein Haar, auf das das Licht fiel, weizenblond. Und das Lächeln, mit dem er sie bedachte, war wie das des netten Jungen von nebenan.
    »Sie waren gut«, sagten beide gleichzeitig.
    Sie mussten lachen. »Erst Sie«, sagte Mr.Superhirn.
    »So etwas habe ich noch nie erlebt.«
    Er legte das Cape zusammen mit dem Zylinder auf einen Hocker. »Und mir hat es noch nie jemand derart schwer gemacht«, erwiderte er. »Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«
    Da die meisten Zuschauer den Clubraum bereits verlassen hatten, war es dort angenehm ruhig. »Ich heiße Kenny«, stellte er sich vor, als ihre Cappuccinos serviert wurden.
    Coco kam nicht darüber hinweg, wie
stinknormal
alles an ihm war – sein Name, sein Äußeres, seine unspektakuläre Art. Dennoch war sein Auftritt Spitze gewesen. »Wie machen Sie das, diese Gehirnakrobatik?«
    »Das wurde mir in die Wiege gelegt.«
    »Eine Begabung?«
    »Oder ein Fluch, je nachdem, wie man es betrachtet. Ich kann einfach nichts vergessen. Alles was ich lese oder sehe oder höre oder erlebe, bleibt mir im Gedächtnis haften. Das reicht bis in meine Kindheit zurück. Nichts entfällt mir.« Ihre Blicke begegneten sich über die rubinrote Kugel hinweg, und Coco spürte, wie es bei ihr funkte.
     
    Sie dachte, er würde eingehender über seine Begabung sprechen, stattdessen sagte er: »Also, Coco … geht das auf Chanel zurück?«
    »Es ist ein

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