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Wilder Oleander

Wilder Oleander

Titel: Wilder Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathryn Harvey
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Garten benutzt hätte; deshalb wären ihre Fingerabdrücke darauf gewesen. Emmy Lou ließ ihr Herz in diesen Briefen sprechen und verschickte sie jede Woche erneut, wie Friedenstauben, um dann auf Antwort zu hoffen.
    Inzwischen regte sich das Baby in ihr, das sie bereits über alles liebte.
    Emmy Lou verabscheute das Wort »Bastard« und »unehelich«. Konstruierte, geschraubte Begriffe, die nichts mit den Gesetzen der Natur zu tun hatten. Wie konnte ein Baby illegitim, ungesetzlich sein? Ebenso gut konnte man dann auch eine aus einem Samen gezogene Pflanze illegitim nennen oder männliche und weibliche Blüten vor der Bestäubung zur Heirat zwingen. Und von den Zehn Geboten lautete auch keines:
Du sollst keine Bastarde gebären.
Ihre Mithäftlinge hatten gesagt, weil fünfzehn Jahre lang keine Aussicht auf Bewährung bestand, dürfte sie das Baby nicht behalten, man würde es ihr wegnehmen. Also schrieb Emmy Lou auch Briefe an ihren Großvater und andere in Little Pecos und bat sie, sich um ihr Baby zu kümmern, bis ihrem Antrag stattgegeben würde.
    Sie befand sich im Aufenthaltsraum und schrieb Briefe, als sie auf Mercy losgingen – die Aufseherinnen mit ihren Scheren
und Rasierern und dem Shampoo gegen Läuse. Sie hetzten sie durchs Zimmer, und als sie sie erwischt hatten, schoren sie ihr die »Negerkrause«, wie sie es nannten, vom Schädel. Jeden Monat wiederholte sich das, ohne dass Emmy Lou den Grund dafür erfuhr und keine der anderen Häftlinge sich dieser Prozedur unterwerfen musste. Nur Mercy.
    Es war ein kalter Tag im Januar, und Emmy Lou fand, Mercy wäre mit Haaren besser dran, aber die Aufseherinnen ließen erst von Mercy ab, als ihr Kopf kahl geschoren war. Niemand eilte ihr zu Hilfe, und als Emmy Lou zu ihr ging, raunten einige der anderen »Niggerfreundin«. Emmy Lou achtete nicht auf sie.
    Weil Mercys Kopfhaut ein paar Schnittwunden abbekommen hatte, holte Emmy Lou aus dem Baderaum ein feuchtes Handtuch.
    »Nur weil ich ’ne Schwarze bin«, sagte Mercy und fuhr sich mit dem Handrücken quer unter der Nase lang. »Sie haben was gegen die neuen Gleichstellungsgesetze. Also lassen sie ihren Frust an mir aus.«
    Eine völlig zahnlose junge Frau war ein abartiger Anblick. Und bildete sie sich das nur ein oder war Mercy tatsächlich seit Emmy Lous Ankunft vor vier Monaten noch dünner geworden? »Du brauchst Zähne«, erklärte sie schließlich, weil das mal gesagt werden musste.
    Mercy nickte. »Ich bin auf einen echten Mistkerl reingefallen. Dachte, er liebt mich. Er wollte mich zur Prostitution zwingen, aber ich bin keine Hure. Dem ersten Kunden, den er mir verpasste, hab ich fast den Schwanz abgebissen. Daraufhin schlug mir mein so genannter Beschützer die Zähne aus. Noch mal würd ich das nicht mehr machen, meinte er. Da hab ich ihn umgebracht.«
    »Kannst du dir kein Gebiss anfertigen lassen?« Emmy Lou wusste, dass das Gefängnis über einen Zahnarzt verfügte und
die eine oder andere Gefangene die Gelegenheit nutzte, sich von ihm behandeln zu lassen.
    »Ich hab doch eins«, sagte Mercy kleinlaut. »Aber ich kann’s nicht tragen. Es tut so weh.« Sie fletschte die Lippen. Überall war das Zahnfleisch entzündet. »Ich kann nichts essen, ich kann mich nicht unterhalten. Wie eine Vogelscheuche seh ich aus, wie eine alte Frau.«
    Emmy Lou schrieb an ihren Großvater und bat um Zeitschriften und Kaugummi und um noch etwas, das sie ihn bat, mit dem Etikett »Vitamine« zu versehen, weil sie befürchtete, es sonst nicht ausgehändigt zu bekommen.
    Das Päckchen kam eine Woche später. Emmy Lou verteilte die Zeitschriften und den Kaugummi und ging dann auf den Hof, wo Mercy am Maschendrahtzaun stand, auf dessen anderer Seite die Freiheit lockte.
    »Ich hab was für dich, Mercy.«
    Das dunkelhäutige Mädchen zitterte im beißenden Winterwind. »Geh weg. Alle machen sich über mich lustig. Sagen, ich fall auf ’ne gutmütige Weiße rein.«
    »Da, nimm schon«. Emmy Lou hielt ihr die kleine Flasche hin.
    Mercy zwickte die Augen zusammen. »Was iss’n das?«
    »Nelkentinktur. Mein Großvater stellt sie her, von seinem eigenen Gewürznelkenbaum. Reib dein Zahnfleisch damit ein, dann vergehen die Schmerzen. Tu etwas davon auf deine Prothese und trag sie fünf Minuten lang. Und dann immer ein bisschen länger, und schon bald wird dein Gebiss so bequem sein wie ein Paar alte Schuhe.«
    Es war Anfang April, als Emmy Lou im Speisesaal eine Mahlzeit aus Kartoffeln und Mais löffelte und es plötzlich

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