Wilder Oleander
für Reisen? Reisen
Sie
denn viel?«
Coco war enttäuscht. Sie hatte große Erwartungen in ihn gesetzt, war drauf und dran gewesen, mit ihm
warm
zu werden, aber er war nicht derjenige welcher. »Tut mir Leid«, sagte sie, schob den Stuhl zurück und stand auf. Dies hier musste im Keim erstickt werden, noch ehe sich ihr Herz verstrickte.
»Mir fällt gerade ein, dass ich noch was zu erledigen habe.«
»Aber … «
»Danke für den Kaffee«, sagte sie und war weg, hastete aus dem Hotel und über einen der vielen Pfade, vorbei an dahinschlendernden, gut gelaunten Gästen und Bäumen und Buschwerk, bis sie ihr Häuschen erreichte. Sie knallte die Tür hinter sich zu, schmiss ihre Tasche aufs Sofa und nahm sich die Kristallkugel vor.
Kapitel 6
Der Fluchtkoffer.
Nach dreiunddreißig Jahren hatte Abby ihn noch immer nicht weggetan. Der Koffer war alt und schäbig, der geplatzte Griff zwar repariert und die Schlösser erneuert worden, nicht aber das zerrissene Innenfutter. Abby hatte ihn als eine Mahnung behalten. Wann immer sie zu unbekümmert wurde und in ihrer Wachsamkeit nachließ, holte der Koffer sie in die Wirklichkeit zurück.
Aber das war nicht der Grund, weshalb sie ihn jetzt mit zitternden Händen aus dem obersten Fach ihres Kleiderschranks herauszog und, von qualvollen Erinnerungen übermannt, ins Sonnenlicht trug, das durch ihr Schlafzimmerfenster drang. Es ging ihr um das, was er enthielt.
Was sich bis zum Mittag ereignet hatte, machte ihr zu schaffen – Maurice’ Drohung, den Job hinzuschmeißen; das Gefühl, Jack Burns unbedingt im Auge behalten zu müssen; nicht zuletzt Sissy und Coco –
eine von euch könnte meine Tochter sein.
Abby musste sich um tausend Dinge kümmern, aber jetzt konnte sie nicht anders als sich aufs Bett setzen und mit der Hand über das abgewetzte Leder des Koffers streichen. Und die Gedanken zurückschweifen lassen …
Ihre Mitgefangene hieß Mercy und war eine zaundürre junge Schwarze mit angsterfüllten Augen und einem Schädel,
der so glattgeschoren war wie eine Billardkugel. Beim Überqueren des staubigen Hofs sprach Mercy kein Wort.
»Was ist mit meinem Koffer?«, fragte Emmy Lou, die an jenem anbrechenden kühlen Abend hinter Mercy herging. Man schrieb das Jahr 1971 , der Prozess war vorbei, die Geschworenen hatten sie eines Verbrechens für schuldig befunden, das sie nicht begangen hatte, und sie war dort gelandet, wo sie ihre lebenslange Haftstrafe verbüßen sollte. Allen Formalitäten war Genüge getan worden, und jetzt wollte sie ihren Koffer, den Großvater Jericho für sie gepackt hatte.
Als keine Antwort erfolgte, merkte Emmy Lou, dass etwas mit Mercys Mund nicht stimmte.
Baracke zwölf war ein lang gestreckter Holzbau mit einem Dach aus Teerpappe. Innen, unter vergitterten Fenstern, standen zwei durch einen schmalen Gang getrennte Reihen Betten, von denen einige von Frauen besetzt waren, die sich hingelegt hatten oder darauf saßen und lasen oder eine Patience legten oder Dame spielten oder einfach Löcher in die Luft starrten.
»Das hier ist dein Bett«, sagte Mercy, und Emmy Lou bemerkte, dass die Dunkelhäutige, obwohl sie nicht älter als zwanzig aussah, keine Zähne mehr hatte.
Als Mercy sich verziehen wollte, sagte Emmy Lou: »Hey, wart doch mal. Mein Koffer. Wie komm ich an den ran?«
»Wir dürfen nichts Eigenes haben.« Mercy schwirrte ab.
Das Gefängnis von White Hills beherbergte eine Kleiderfabrik, und für ihre Arbeit erhielten die Häftlinge elf Cent die Stunde. So bald sie konnte, erstand Emmy Lou einen Schreibblock, Umschläge und Bleistifte und verfasste in ihrer Freizeit Briefe an ihren Pflichtverteidiger, an den Richter, der bei ihrem Prozess den Vorsitz innegehabt hatte, an den Sheriff, der sie verhaftet hatte, an den Bezirksstaatsanwalt, ja sogar an den Redakteur der in Pecos erscheinenden Zeitung – einfach
an jeden, von dem sie sich Unterstützung versprach, um ihren Fall nochmals aufzurollen. Sie beharrte darauf, unschuldig zu sein, verlor aber kein Wort über den Herumtreiber, mit dem sie eine kurze Sommerromanze erlebt hatte. Zwar nahm ihr Verdacht, dass er die alte Avis umgebracht hatte, mit jedem Tag, an dem sie nichts von ihm hörte, zu, auch wenn sich das nicht beweisen ließ; andererseits schwelte noch immer ein Fünkchen Hoffnung in ihr, dass er nichts mit dem Verbrechen zu tun hatte. Ihre Briefe kündeten von ihrer Zuneigung zu und ihrer Hochachtung vor Avis und davon, dass sie ständig deren Schaufel im
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