Wilder Oleander
mucksmäuschenstill wurde. Alle wandten sich um und sahen Mercy eintreten, erhobenen Hauptes und mit breitem Grinsen zwei Reihen weißer Zähne entblößend.
Sie hatte Emmy Lous Weisung befolgt und mit Hilfe der Tinktur ihr Zahnfleisch an die Prothese gewöhnt, erst nur Hafergrütze und Kartoffelbrei gegessen, allmählich dann auch Gemüse und Brot, bis sie ihre dritten Zähne ständig tragen und alles essen konnte.
Die Verwandlung war verblüffend. Wangen und Lippen nicht mehr eingefallen, aufrechter Gang, den Blick geradewegs auf ihr jeweiliges Gegenüber gerichtet. Eine neue, selbstbewusste Mercy, die niemand mehr schikanieren konnte, auch nicht die Aufseherinnen mit ihren Scheren.
Von da an war ihr Redeschwall nicht mehr zu bremsen. »Momma war Putzfrau«, vertraute sie auf einem Hofrundgang Emmy Lou an, die sich, mittlerweile im achten Monat schwanger, mit der Hand den Rücken abstützte. »Mag ja viel mit Dreck zu tun gehabt haben, aber sie war stolz und besaß Würde. Hätte stattdessen auch ihren Körper verkaufen können, um uns Kinder durchzufüttern, da schwirrten ständig Männer um sie rum, weil sie so verdammt hübsch war. Aber Momma war ’ne gute Christin und sagte, hinknien würde sie sich nur, um zu beten oder Fußböden zu schrubben und nicht, um die Bedürfnisse von irgendwelchen Männern zu befriedigen.«
Am Maschendrahtzaun blieben sie stehen und schauten sinnend über das flache, sich ins Unendliche erstreckende Land. »Hast du einen Wunschtraum, Emmy Lou? Einen, den du dir unbedingt erfüllen möchtest, bevor du stirbst?« Das fragte eine Zwanzigjährige! »Ich für meinen Teil träum davon, zu erleben, wie sich der Nebel über die Bucht von San Francisco senkt. Ich komm aus dem dreckigsten Loch in Texas, wo dir der Staub unter die Haut und in die Augen kriecht. Aber als ich im Kino diesen Film über San Francisco gesehn hab, diese Hügel und Seilbahnen und diese dicke weiße Wolke, die vom Meer her über das Wasser schwebte und diese große
rote Brücke einhüllte und ein Nebelhorn durch den Dunst ertönte, hatte ich das Gefühl, der ganze Texasdreck würde aus mir rausgeschwemmt. Hat sich in mir festgesetzt, hier« – sie klopfte sich auf die Brust – »und mich nicht mehr losgelassen und immer wieder dran erinnert, dass ich da mal hin muss.«
Emmy Lous sehnlichster Wunsch war, vor der Geburt ihres Babys aus der Haft entlassen zu werden. Es sollte in Freiheit zur Welt kommen; dann würden sie wieder nach Little Pecos gehen, zu Großvater Jericho, und gemeinsam würden sie das Kind mit dem Anbau von Gottes Grünzeug vertraut machen.
Emmy Lou war dabei, Haken an Häftlingshosen zu nähen, als man ihr befahl, sich im Krankenrevier eine Vitaminspritze geben zu lassen. Als sie kurz darauf mit ihrem Tablett ans Fenster der Cafeteria trat, schoss ein Schmerz durch sie hindurch. Sie schrie auf und wäre wohl zusammengebrochen, wenn Mercy sie nicht aufgefangen und ins Krankenrevier geschafft hätte, wo man die Schwarze hieß, Hilfestellung zu leisten, weil die Gefangene, die normalerweise in dieser Abteilung Dienst tat, wegen einer Mandelentzündung ausfiel.
»Es ist noch zu früh!«, begehrte Emmy Lou trotz der unsäglichen Schmerzen auf. Das Kind sollte erst in drei Wochen kommen. Stimmte etwas nicht? »Rufen Sie meinen Großvater an! Versprechen Sie mir das! Er soll kommen und mein Baby mitnehmen.«
Der Arzt versprach es.
»Sag meinem Großvater Bescheid«, beschwor Emmy Lou Mercy, die ihr die Hand hielt. »Sag ihm, er soll das Baby zu sich nehmen. Lass nicht zu, dass es in ein Waisenhaus kommt.«
»Mach dir keine Sorgen.« Mercy klopfte Emmy Lou auf die Schulter und schielte verstohlen auf das auf einem Tisch bereit liegende Skalpell, die Klammern und die Geburtshilfezange.
Emmy Lou griff sich an den Leib.
Noch nicht, mein Kleines. Wart’s ab. Bleib noch ein Weilchen bei mir. Es eilt nicht, diese Welt zu betreten.
Als der Doktor sagte: »Betäuben«, umklammerte Emmy Lou Mercys Hand.
Das verabreichte Medikament verfehlte seine Wirkung nicht. Erst spürte Emmy Lou einen stechenden Schmerz, dann keinen Schmerz mehr, und dann meinte sie, von einem samtenen Vorhang eingehüllt zu werden. Danach sah, hörte, spürte sie nichts mehr.
Sie wachte in einem Krankenbett auf. Sonnenlicht ergoss sich über ihre Decke. Eine Schwester überprüfte ihren Puls.
»Mein … Baby …?«
»Es ist gestorben, Liebchen. Ein winziges Wesen, nicht voll entwickelt.«
Einen Friedhof gab es in
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