Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wilder Oleander

Wilder Oleander

Titel: Wilder Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathryn Harvey
Vom Netzwerk:
White Hills nicht. Wenn ein Häftling starb, kam ein Leichenbestatter aus Amarillo und holte die Tote ab. Wenn es keine Angehörigen gab, die sich um das Begräbnis kümmerten, wurde die Verstorbene in Potter’s Field verscharrt. Dorthin, so teilte man Emmy Lou mit, sei ihr Baby gebracht worden, in ein nicht gekennzeichnetes Grab.
    Wieder auf ihrer Pritsche liegend, versuchte sich Emmy Lou das kleine Grab mit der winzigen Holzkiste vorzustellen, ihr Baby, das da ganz allein Kälte und Dunkelheit ausgeliefert war. Warum war es gestorben? Was hatte sie getan oder unterlassen? Wäre ihr Baby am Leben geblieben, wenn sie etwas Vernünftiges zu essen bekommen hätte? Wenn sie mehr gebetet, länger geschlafen, nachdrücklicher auf ihre Unschuld gepocht, noch einen Brief mehr geschrieben hätte – hätte sie es dann retten können?
    Ihre Gedanken waren düster und verworren wie die Wolken, die sich über Texas ballten, Kummer hüllte sie ein wie die graue Decke auf ihrem Bett. Warum befand sie sich noch immer
an diesem schrecklichen Ort? Warum wurde sie für ein Verbrechen bestraft, das sie nicht begangen hatte? Warum hatten alle sie vergessen?
    Was ihr den Rest gab, war ein Brief von einer Nachbarin in Pecos. »Tut mir Leid, dir das schreiben zu müssen, aber dein Großvater ist an Herzversagen gestorben. Ich wär ja lieber persönlich gekommen und hätt’s dir schonend beigebracht, aber meine Arther-itis macht mir wieder mal zu schaffen und bis zu dir in die Gegend von Amarillo ist’s einfach zu weit. Seit man dich eingebuchtet hat, war Jericho nicht mehr der Alte. Die Kunden blieben aus, mit dem Betrieb ging’s bergab. Die Bank hat die Gärtnerei und das gesamte Grundstück kassiert, weil da noch Schulden drauf waren. Jericho ist als armer Mann gestorben. Er hat dir nichts hinterlassen.«
    Emmy Lou dämmerte hinüber in einen unruhigen Schlaf, in dem sie sich in der Hölle schmoren sah, die heiß und verqualmt war. Sie hatte immer gedacht, in der Hölle würde es nach Schwefel stinken, aber nein, es stank eher nach brennender Teerpappe. Und dann rüttelte ein kleiner Teufel mit seinen Krallen an ihrer Schulter.
    Sie riss die Augen auf, erkannte in der Dunkelheit Mercy, die sich über sie beugte. »Steh auf!«, zischte sie. »Komm schon!«
    Noch ehe Emmy Lou fragen konnte, »Warum?«, spürte sie um ihr Handgelenk Mercys zupackenden Griff – seit sie mit ihrer Zahnprothese zurecht kam, hatte sie zugenommen und Muskeln entwickelt –, mit dem sie aus dem Bett gezerrt wurde. Wortlos stolperte sie hinter Mercy her, an den Reihen schlafender Frauen vorbei und hinaus in die Nacht, die urplötzlich voller Rauch war.
    »Hier lang!«, raunte Mercy und schlug einen für Emmy Lou ungewohnten Weg ein: zu den Unterkünften der Aufseher. Als Emmy Lou sich umschaute, sah sie, dass aus dem Hauptgebäude
Flammen züngelten und wie jetzt Leute in Nachtgewändern schreiend herausstürzten, als die Sirenen aufheulten. Und dass da mehrere Gebäude brannten – der Speisesaal, die Kleiderfabrik, das Büro der Gefängnisleitung.
    Im Schutze einer Gebäudewand beobachteten sie, wie die Aufseher aus den Unterkünften drängten, sich die Hosen hochzogen, die verriegelten Tore öffneten und zu den Baracken rannten, die, weil sie aus Holz waren, bereits lichterloh brannten. Mercy hastete durch das geöffnete Tor, und erst jetzt bemerkte Emmy Lou, dass sie einen Koffer bei sich hatte.
    Sie erreichten den Parkplatz für die Aufseher, wo sie nach einigem Suchen ein unverschlossenes Auto entdeckten. Mercy schmiss den Koffer auf den Rücksitz und klemmte sich hinters Lenkrad, ertastete Schlüssel auf der hochgeklappten Sonnenblende und rief: »Steig ein!«
    Noch ehe Emmy Lou die Tür zugeschlagen hatte, fuhr Mercy los. Über den Parkplatz und die Staubstraße auf den Highway. »Pass auf, ob uns jemand folgt«, sagte Mercy.
    Durch das Rückfenster sah Emmy Lou zwar, wie das in Flammen aufgehende Gefängnis immer kleiner wurde und dann ihren Blicken entschwand, aber kein Auto, das ihnen folgte, kein Blaulicht oder eine Sirene. Deshalb wandte sie schließlich den Blick in die dunkle Nacht, die vor ihnen lag und in die sie eintauchten.
    Meile um Meile legten sie zurück, ohne ein Wort zu wechseln oder das Tempo zu verringern. Bis Mercy schließlich an einer Kreuzung anhielt, die so unscheinbar war, dass sie nicht einmal eine Bezeichnung trug, kleiner sogar als Little Pecos. Aber eine Bushaltestelle befand sich dort, und auf dem Schild stand

Weitere Kostenlose Bücher