Wilder Oleander
»Greyhound«, und Texas lag hinter ihnen, weil sie die Staatsgrenze zu New Mexiko passiert hatten.
Noch war es dunkel, aber der Anbruch des neuen Tages war abzusehen, als Mercy zum ersten Mal wieder sprach. »Dieses
Feuer hab ich gelegt, weil ich da raus musste und das anders nicht zu machen war. Ich hab dich mitgenommen, weil du dafür gesorgt hast, dass ich wieder lächeln und essen kann. Das werd ich dir nie vergessen, Emmy Lou Pagan. Du hast mir meinen Stolz zurückgegeben, und der hat meinen Kampfgeist wiederbelebt, und ich bin mir bewusst geworden, dass ich ein menschliches Wesen bin und kein Tier und deshalb dieses Gefängnis niederbrennen muss. Aber jetzt trennen sich unsere Wege. Du gehst deinen, ich meinen. Das Auto werd ich über kurz oder lang in den Graben setzen und mich nach Osten durchschlagen. Du nimmst den Bus. Dürfte bald einer vorbeikommen. Ich werd dich nie vergessen, dich, die erste Weiße, die mich wie einen Menschen behandelt hat.«
Sie griff auf die Rückbank und zog den Koffer nach vorn, und Emmy Lou erkannte ihn als den ihren. »Bevor ich die Brände gelegt hab, hab ich mir den noch geschnappt. Ich weiß doch, dass er dir viel bedeutet.«
Emmy Lou öffnete ihn und fand darin Zeitschriften, Telefonmünzen, Schreibpapier und Briefmarken, Kaugummi und eingetrocknete Schokoriegel, Lippenstifte, Fotos von ihrer so früh verstorbenen Mutter, einen Umschlag mit tausend Dollar in bar. Alles liebevoll noch vom Großvater eingepackt.
Sie wollte das Bargeld Mercy in die Hand drücken, aber die wies es zurück. »Ich hab genug Kohle. Hab mich aus dem Schreibtisch der Gefängnisleitung bedient. Das waren die mir schuldig, allein schon für das ewige Abrasieren meiner Haare. Und jetzt geb ich dir noch einen guten Rat: Leg dir ’nen andern Namen zu. Hinter Emmy Lou Pagan werden sie nämlich her sein.«
»Nein«, wehrte Emmy Lou ab. »Ich geh wieder zurück.«
»Bist du wahnsinnig?!«
»Ich bin unschuldig. Mein Großvater ist wegen der Schande, die ich ihm gemacht habe, gestorben. Ich werde unseren
Namen reinwaschen. Das kann ich nicht, wenn ich auf der Flucht bin.«
»Wenn du zurückgehst, werden sie dich auf immer und ewig einsperren.«
»Ich muss gegen sie vorgehen, Mercy. Ich besorg mir einen Anwalt. Ich werde kämpfen.«
Emmy Lou blieb eigentlich nur noch, die Wagentür zu öffnen und auszusteigen. Am Rande des Highways erhoben sich ein paar mächtige Gesteinsbrocken; hinter denen wollte sie ihr Gefängnisnachthemd mit Kleidung aus dem Koffer vertauschen und dann auf den Greyhound warten, der sie zurück nach White Hills bringen würde.
»Noch was sollst du wissen«, sagte Mercy. »Deine Wehen, die wurden künstlich eingeleitet. Das hab ich mitgekriegt. Das war keine Vitaminspritze, die sie dir da verpasst haben, sondern irgendein Zeugs, das Wehen auslöst. Sie hatten es eilig, dein Baby rauszuholen.«
Emmy Lou starrte sie an. »Wieso das denn?«
»Weil dein Baby nicht tot ist. Es kam völlig gesund zur Welt, mit ’ner prima Lunge. Ein perfektes Baby. Ein Mädchen. Zehn Finger, zehn Zehen, wir haben nachgezählt. Sie wurde einem Mann übergeben, der ins Gefängnis kam und sie abholte. Die Direktorin befahl mir, den Mund zu halten, sonst würde sie dafür sorgen, dass ich nie wieder Zähne haben kann.«
Wie versteinert saß Emmy Lou da. Ihre Augen sprachen Bände, waren ein großes Fragezeichen.
Mercys Stimme wurde weich. »Ich weiß nicht, wohin dein Baby gebracht wurde, Liebes. Aber ich hab gehört, wie die Direktorin zum Doc sagte: ›Bakersfield hat’s eilig.‹«
Emmy Lou rang um Atem, ihre Brust war wie abgeschnürt. »Bakersfield? Ist das eine Person?«
»Schon möglich, könnte aber auch ’ne Kurzform sein, so was wie
der Mann
in Bakersfield.«
»Wo liegt das?«
Mercy zuckte die Schultern. »Der Wagen, ein weißer Impala, hatte kalifornische Nummernschilder. Ich hab das Baby in einer Decke rausgetragen. Die Direktorin übergab die Kleine diesem Mann. Auf dem Beifahrersitz seines Autos war eine Frau und auf dem Rücksitz lagen noch drei vermummte Babys. Der Fahrer reichte dein Baby der Frau, die ein Fläschchen bereit hielt. Mehr weiß ich nicht.«
Emmy Lou blickte durch die verschmutzte Windschutzscheibe auf den Highway, der sich bis zum Horizont zog. Von jetzt auf gleich war alles anders. Ihr Baby lebte. Sie konnte unmöglich zurück nach White Hills. Erst wenn sie ihr Kind gefunden hatte.
Mercy legte ihre kräftige Hand auf Emmy Lous Arm. In ihren Augen
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