Wilder Oleander
ebenso empfunden, hatte sich in diesem übervölkerten San Francisco, wo es niemanden gab, mit dem sie reden, niemandem, zu dem sie sagen konnte: »Hey, weißt du noch?«, entsetzlich einsam gefühlt. Dennoch hatte sie gezögert. »Wir sind noch immer auf der Flucht, und solange wir zusammen auf der Flucht sind, ist das Risiko, gefasst zu werden, doppelt so hoch.«
»Halb so hoch«, hatte Abby richtiggestellt. »Weil wir uns gegenseitig Rückendeckung geben.«
Seither gaben sie sich gegenseitig Rückendeckung.
Vor allem jetzt. Als Vanessa bemerkte, wie die Freundin schmerzlich und sehnsüchtig zum Fenster schaute, wusste sie, was in ihr vorging: Sie wäre gern einfach zu Sissy und Coco gelaufen, um herauszufinden, wer von den beiden ihre Tochter war. »Abby«, mahnte sie deshalb. »Geh es ganz langsam an. Was du vorhast, ist ein Drahtseilakt. Ein unbedachter Schritt, und du kannst alles vergessen – dieses Resort, deine Tochter, deine Freiheit, sogar dein Leben! Du darfst dir keinen Fehler erlauben. Achte darauf, keine unliebsamen Zuhörer zu haben. Und diesem Jack Burns, dem trau ich auch nicht über den Weg. Abby, du hast dreiunddreißig Jahre gewartet, da kommt es auf einen weiteren Tag nicht mehr an.«
In dem Blick, den Abby Vanessa zuwarf, lag eine so große Sehnsucht, dass Vanessa für einen Augenblick die Fassung verlor. »Sollte eine Mutter nicht ihr eigenes Kind erkennen«, fragte Abby beschwörend, »selbst wenn sie es noch nie gesehen hat?«
»Ich kann bei beiden keine große Ähnlichkeit mit dir feststellen.« Aber Vanessa wusste, dass dies nicht viel zu bedeuten
hatte. Ihre eigene Schwester Ruby wies keinerlei Ähnlichkeit mit ihren Eltern oder Geschwistern auf, war dafür einer Großtante mütterlicherseits wie aus dem Gesicht geschnitten.
»Das meinte ich nicht«, sagte Abby. »Ich rede von Instinkt, von einem inneren Gefühl.«
»Weißt du schon, wie du dich den beiden gegenüber verhalten willst?«
Was sagt man einer Tochter, die nicht weiß, dass sie als Baby adoptiert wurde? Oder, falls sie es wusste, dass diese Adoption unrechtmäßig erfolgte, dass sie ihrer leiblichen Mutter entwendet wurde, als diese wegen Mordes eine lebenslange Haftstrafe verbüßte?
Auf seinem Spaziergang gelangte Jack Burns zu dem Abflugspavillon an der Landepiste, wo ein paar Gäste warteten. Alle ausgelassen und bester Laune, lachend, einige Küsse tauschend und Händchen haltend und keineswegs so, wie Urlauber am Ende einer Reise wirkten: müde, schlapp, ausgepumpt. Diese Leute hier sahen aus, als hätten sie eine Wunderdroge zu sich genommen. Das verklärte Lächeln sowie die träumerischen Blicke (die Augen der Damen leuchteten) machten Jack deutlich, um was für eine Wunderdroge es sich handelte.
Er schlenderte weiter, durch das Herz des Resorts, vorbei an einer großen Voliere mit exotischen bunten Vögeln, und gelangte zu einem der kleineren Pools, der, da er in Felsgestein eingebettet und mit dichten Farnsträuchern umwachsen war, den Eindruck einer natürlichen Lagune erweckte. Wie sich Jack eingestehen musste, hätte er am liebsten Jeans und Lederjacke ausgezogen und ein Bad genommen.
Auf einem schmalen Grünstreifen unweit der Lagune waren Liegen und Tische aufgestellt, und ein paar Leute lauschten andächtig einem Mann in Tanktop und Shorts, der sich lauthals
damit brüstete, welch ein »Mösenmagnet« sein unlängst gewonnener Oscar war. »Die Puppen sind versessen drauf, ehrlich. Hab die Statue zu Hause auf dem Kamin stehen. Kaum haben sie einen Blick drauf geworfen, machen sie sich die Höschen nass. Und die Beine breit, ja, ’s ist wirklich so.« Jack kannte ihn. Ivar Manguson, der sich als Regisseur von Mammutschinken, die er noch dazu mit unglaublichen Spezialeffekten aufpeppte, einen Namen gemacht hatte. Wie es hieß, ließ er sich mit seiner jeweiligen Hauptdarstellerin auf eine leidenschaftliche Affäre ein, die nur so lange dauerte, bis der Film abgedreht war. Eine dieser Damen hatte er sogar geheiratet – den Star eines Katastrophenfilms, der Rekordergebnisse eingespielt hatte –, und als er sich nach Beendigung der Dreharbeiten von ihr scheiden ließ, gab er als Grund an, dass »sie nicht mehr der Rolle gerecht wurde, die sie verkörpert hatte, sondern wieder zu einer stinknormalen Frau geworden war.«
Jack wollte schon weitergehen, als er eine Kellnerin mit einem Tablett Cocktails näher kommen sah. Einer der Männer in der Gruppe versuchte, ihr den Hintern zu tätscheln. Sie
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