Wilder Oleander
eingekerbt, sein Haar war vorzeitig ergraut und seine braunen Augen vermittelten den Eindruck, schon viel zu viel gesehen zu haben.
Am Morgen war Jack schweißgebadet aufgewacht. Im Traum hatte er nochmals die schreckliche Szene durchlebt, wie der Leichenbeschauer die Tote auf den Rücken gerollt hatte. Als Jack zum Tatort gerufen worden war, hatte er gedacht, es handle sich um eine Routineuntersuchung. Ein Junkie, hatte es über Funk geheißen. In der Tat ein Junkie, die Nadel steckte ihr noch im Arm, auf ihrer weißen Haut Heroinspuren.
Jack hatte das bleiche Gesicht angestarrt. Es kam ihm bekannt
vor. Mehr noch: vertraut. Und als er begriffen und »Nina« geflüstert hatte, waren seine Knie weich geworden, der Boden hatte sich gehoben und ihm einen Schlag ins Gesicht verpasst, sodass er neben der nackten Leiche zusammengesackt war.
Was ihn nun verfolgte, war nicht mehr das Entsetzen, den Körper seiner Schwester zu sehen, sondern jene Nachricht, die sie nur ein paar Tage vor ihrem Tod auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. »Jack, ich habe endlich einige von den Namen auf meiner Liste erreichen können. Da ist eine in New York, eine in Illinois und eine in Santa Barbara. Ich hab ihnen erzählt, dass ich an einem Zeitungsbericht arbeite und gern persönlich mit ihnen sprechen wolle. Und Jack, stell dir vor, das Komische ist, dass zwei von ihnen sagten, dass sie jetzt gerade eine Urlaubsreise anträten. Sie haben jeweils eine Woche Aufenthalt in einem Ferienresort namens The Grove gewonnen. Diese Frauen kennen sich untereinander überhaupt nicht und beide sagten, sie könnten sich gar nicht erinnern, an einem Preisausschreiben teilgenommen zu haben. Jack, ich glaube, das alles hat etwas mit der Eigentümerin von The Grove zu tun. Glaub mir, da steckt ein Riesending dahinter. Ich möchte noch nicht mehr sagen, bis ich heute Abend mit einem Kontaktmann gesprochen habe. Er will nur mit mir reden, wenn ich ihm völlige Anonymität zusichere. Ich erzähl dir dann alles beim Frühstück. Halt mir die Daumen!«
Das waren die letzten Worte, die seine Schwester je zu ihm gesprochen hatte.
Jack trocknete sich nachdrücklich die Hände ab, zog seine Lederjacke an, rückte die Pilotenbrille zurück und begab sich auf die Suche nach Abby Tyler.
Abby studierte ihr Gesicht im Spiegel, voller Sorge, ob jemand sie noch erkennen würde.
Vanessa hatte immer wieder Abby beschworen, sich einer plastischen Operation zu unterziehen, sich ein anderes Gesicht zuzulegen. Aber Abby hatte nichts davon hören wollen. »Eines Tages werde ich meine Tochter finden«, pflegte sie zu antworten, »und dann möchte ich mich mit ihr vor den Spiegel stellen und sagen: ›Wir sehen uns ähnlich.‹« Vanessa war in dieser Hinsicht besser dran. Nichts an ihr erinnerte an diese armselige Kreatur, der eine wagemutige Flucht aus dem Gefängnis geglückt war. Durch eine andere Frisur, Implantate statt der Zahnprothese und Gewichtszunahme hatte sich ihr Äußeres derart verändert, dass niemand Vanessa Nichols mit dem Mädchen in Verbindung bringen würde, die dereinst von sadistischen Gefängnisaufseherinnen gepiesackt worden war. Vanessa dachte zurück an den Tag, da Abby sie gefunden hatte. 1985 war das gewesen, dreizehn Jahre nachdem sie sich an einer einsamen Kreuzung in der Wüste von New Mexiko getrennt hatten. Abby, die nichts außer einen Traum verfolgte, den Mercy in ihr geweckt hatte, war bei ihrer Suche zufällig über Mercy gestolpert, die an einem Aussichtspunkt am hinteren Ende der Golden Gate Brücke hockte, versunken in die Beobachtung des hereinwallenden Nebels. Nicht nur einen neuen Namen hatte sich Mercy inzwischen zugelegt – Vanessa Nichols –, sie verfügte auch über einen gefälschten Ausweis und eine ebensolche Geburtsurkunde, hatte tagsüber Fußböden geschrubbt und abends die Schule besucht und dann einen hauswirtschaftlichen Job in einem großen Krankenhaus ergattert, wo sie zunächst Patientenzimmer in Schuss gehalten und sich allmählich hochgearbeitet hatte und an jenem nebelverhangenen Tag im Jahre 1985 , als Abby sie aufspürte, den Posten der stellvertretenden Leiterin der hauswirtschaftlichen Abteilung für das gesamte Krankenhaus bekleidete.
Abby hatte Vanessa gedrängt, mit ihr nach Los Angeles zurückzugehen. Sie brauche sie, hatte sie gesagt, sie sei ihre einzige Freundin, die noch dazu bei der Geburt ihres Babys dabei gewesen sei, die Einzige, der sie vertrauen könnte – und Vanessa hatte
Weitere Kostenlose Bücher