Wilder Oleander
Sir?«, fragte Zeb, nachdem Jack aus dem Wagen gestiegen war.
»Ja. Warum?«
»Sicherheitshalber.« Zeb reichte ihm eine kleine Karte mit der Telefonnummer der Wachmannschaft im Resort. »Diese Nummer ist rund um die Uhr zu erreichen.«
Jack spähte um die Felsen herum. »Scheint alles einigermaßen sicher zu sein.«
»In letzter Zeit treiben sich jede Menge Kojoten hier rum. Wir nehmen an, dass sie an der Nordseite dieser Felsen einen Bau haben. Möchten Sie abgeholt werden?«
Jack warf einen Blick zu den dicht an dicht stehenden Bäumen, durch die so etwas wie weiße Kuppeln schimmerten. Was war das? In drei Meilen Entfernung? »Ich kann zu Fuß zurücklaufen.«
»Falls Sie sich’s anders überlegen … « Zeb hob grüßend die Hand und brauste davon.
Trotz der grellen Sonne, die auf die sandige Ebene strahlte, war die Luft eisig kalt, fegte durch die massiven Felsblöcke der Indian Rocks, pfiff durch Spalten und Risse, peitschte um Jack herum, zerrte an seiner Kleidung, schnitt ihm ins Gesicht und in die Hände. Die Gegend hatte etwas Ehrwürdiges, Weihevolles an sich. Wie der letzte Überlebende kam Jack sich vor.
Er faltete die tragbare Zielscheibe auseinander, die dazu diente, Pfeile mit breiteren oder schmalen Spitzen aufzufangen, und klemmte sie zwischen zwei Felsblöcke, stapfte dann hundert Fuß dorthin zurück, wo er die übrige Ausrüstung deponiert hatte. Er zog seine Jacke aus und legte sie auf einen Fels, streifte auch den Schulterhalfter mit dem Revolver ab, bis er nur noch in Jeans und einem eng anliegenden T-Shirt dastand. Locker sitzende Bekleidung war beim Bogenschießen riskant und beeinträchtigte die Zielsicherheit.
Nachdem er die Windrichtung und den Einfallswinkel der Sonne überprüft hatte, stülpte er sich den Schießhandschuh über die rechte Hand, hakte den Köcher an seinen Gürtel und griff zum bereits gespannten Bogen.
Das Bogenschießen hatte er als kleiner Junge für sich entdeckt, in einem der teuren Sommercamps, in das seine gut betuchten Eltern ihn zu schicken pflegten und wo die Kinder von Filmschauspielern ihre Ferien verbrachten. Pfeil und Bogen hatten es ihm auf der Stelle angetan, das Gefühl der Kontrolle, der Augenblick höchster Konzentration, das Spannen und Abschnellen der Sehne, die Genugtuung, wenn der Schuss mitten ins Schwarze traf. Hin und wieder hatte Jack an Wettkämpfen teilgenommen, um sich zu beweisen und sein Können bewerten zu lassen – am liebsten war ihm Bogenschießen ohne Entfernungsangabe –, war aber nie Mitglied
einer Mannschaft geworden. Jack Burns war ein Bogenschütze, der die Einsamkeit vorzog.
Sein Bogen war ein Hatfield Take-Down Recurve mit einem Zuggewicht von sechzig Pfund, maßgefertigtem Griff, mit Fiberglas beschichteten laminierten Wurfarmen, matt eloxiert, die Spitzen verstärkt.
Jack war in seinem Element, in seiner Welt, in der es nur ihn gab und sein Ziel und die unendliche, sich bis zum Horizont dehnende Weite. Alles Sein, das Leben, das Universum waren reduziert auf Bogen, Sehne und Pfeil, auf Jacks scharfe Augen, seine kräftigen Muskeln und die Entschlossenheit, ins Zentrum der Zielscheibe zu treffen.
»
Grauenhaft, Detective«, hatte der Polizist in Uniform gesagt. »So jung und hübsch.
«
Er nahm Aufstellung, die linke Zehe dem Ziel zugewandt, die rechte seitlich ausgerichtet.
Sie war nackt, lag auf dem Gesicht, in ihrem eigenen Erbrochenen.
Er wählte einen Pfeil aus und setzte ihn auf der Sehne des Bogens auf.
»Sieht aus wie Ejakulat, das Zeug hier auf ihren Schenkeln und dem Hintern«, hatte der Leichenbeschauer gemeint und die abgeschabten Proben in eine Plastiktüte versenkt. »Ehe sie abkratzte, hatte sie Geschlechtsverkehr.«
Den Rücken kerzengerade, den Kopf gereckt, hob er den Bogen und visierte die Zielscheibe an.
»Todesursache?«
Er holte mit dem Bogenarm aus, nahm die Schulter etwas nach unten, ließ den Ellbogen entspannt.
»Schwer zu sagen.
Ihren Habseligkeiten nach zu schließen wahrscheinlich Drogen.«
Er spannte die Sehne. Sein Ankerpunkt war das Kinn.
»Versehentliche Überdosis?«, hatte Jack gefragt, als er sah, wie der Leichenbeschauer das Mädchen an der kalten Schulter packte, um sie umzudrehen.
Anvisieren. Die Spannung im Rücken spüren. Blick auf die
Zielscheibe. Verstand und Körper auf einen einzigen Punkt richten.
Die Leiche lag auf dem Rücken, blondes Haar fiel zur Seite und gab das Gesicht frei – das Gesicht seiner Schwester.
Er schoss.
Jack Burns verlor auf der
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