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Wilder Oleander

Wilder Oleander

Titel: Wilder Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathryn Harvey
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Stelle das Bewusstsein.
Der Pfeil schwirrte durch die Luft und traf genau ins Zentrum der Zielscheibe. Weil aber Jack nur aus einem einzigen Grund in The Grove war, nämlich um einen Mörder zu fangen, ging für ihn dieser Treffer nicht mitten ins Schwarze, sondern durchbohrte ein Herz.
    Das Herz von Ninas Mörder.
     
    Vanessa, wie immer in wehendem Kaftan, aufgepeppt mit klimpernden Perlen und eingehüllt in einen Hauch Moschus, tauchte auf. »Alles arrangiert. Heute Abendessen mit Coco McCarthy.«
    Abby hatte vorgehabt, alle drei zu sich zu bitten, aber Ophelia hatte die Einladung ausgeschlagen und gesagt, sie ziehe es vor, allein zu sein. Und Sissy erwartete angeblich ein paar wichtige Anrufe, wollte aber gern ein andermal der Einladung Folge leisten. Abbys Nervosität stieg. Warum klopfte sie nicht einfach an die Türen von Coco und Sissy und Ophelia, schaute ihnen in die Augen, um dann möglicherweise bereits Gewissheit zu erhalten? Aber Ophelia Kaplan wirkte irgendwie verstört und Sissy schien in eine persönliche Angelegenheit verstrickt. Abby wollte sich nicht aufdrängen.
    Vanessa schenkte sich eine Tasse Kona-Kaffee ein. »Abby«, sagte sie, »ich bin weiterhin der Meinung, dass eine DNS -Analyse das einzig Richtige ist.« Es würde genügen, von jeder ein paar Haare, die in der jeweiligen Bürste zurückgeblieben waren, im Labor untersuchen und mit Abbys DNS vergleichen zu lassen.
    Abby jedoch war unerbittlich. Niemals würde sie in die Privatsphäre
eines Menschen eindringen. Nicht einmal für derart Wichtiges. Vor langer Zeit hatte sie sich geschworen, dass sie niemandem antun würde, was man ihr angetan hatte …
    Man hatte die sechzehnjährige Emmy Lou aus dem Kreis ihrer Freunde heraus verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Die Polizei hatte in ihren persönlichen Dingen herumgeschnüffelt, ihr Tagebuch gelesen, während des Prozesses hatte der Staatsanwalt beweisen wollen, was für ein verdorbenes Mädchen sie war, und deshalb ihren völlig harmlosen Lesestoff vorgewiesen – Reiseprospekte zu allen möglichen Gärten in der Welt, Groschenromane, Liebesgeschichten. Laut hatte er die hochtrabenden Titel der Groschenromane vorgelesen und den Geschworenen weisgemacht, Emmy Lou habe es auf Avis Yocums Geld abgesehen, um abzuhauen; die Vereinigten Staaten seien nicht gut genug für sie, die man häufig in Gesellschaft eines Hippies und Wehrdienstverweigerers gesehen habe.
    Dann, nach erfolgtem Urteilsspruch, war sie ins Gefängnis von White Hills gebracht worden, wo man ihr befohlen hatte, sich nackt auszuziehen. Man hatte sie einer ärztlichen Untersuchung mit einem erniedrigenden rektalen Check unterzogen, sie war mit grüner Seife besprüht und mit einem Schlauch abgespritzt worden, und zum Schluss hatte sich ein Arzt an ihrem Unterleib zu schaffen gemacht und dann, ohne Emmy Lou in die Augen zu sehen, derart beiläufig gefragt: »Wie weit bist du schon?«, dass Emmy Lou, die Füße in Schlaufen eingehängt, sich gar nicht angesprochen gefühlt hatte. Sein »Wie’s aussieht, Ende zweiter Monat« fiel zusammen mit dem schmatzenden Geräusch, das das Abstreifen seiner Gummihandschuhe begleitete. »Sie ist gesund. Arbeitsfähig.«
    Die Demütigung zum Schluss: Man hatte ihr die kupfergoldenen langen Zöpfe »aus Sicherheitsgründen« abgeschnitten und abgetragene Unterwäsche sowie ein unförmiges Baumwollkleid
verpasst und von da an gezwungen, unter den Blicken männlicher Aufseher in Kabinen ohne Vorhang zu duschen und Toiletten ohne Türen zu benutzen.
    Nein, Abby würde nicht in Cocos und Sissys und Ophelias Privatsphäre eindringen und ohne das Einverständnis der drei deren DNS überprüfen.
    Sie wusste nur wenig mehr über diese drei Frauen als das, was der Privatdetektiv in Erfahrung gebracht hatte. Alle drei waren adoptiert worden. Das stand fest. Ob man ihnen das aber gesagt hatte? 1972 wurden Adoptionen noch anders gehandhabt; die Unterlagen kamen unter Verschluss, und für Mütter und Kinder war es fast unmöglich, sich gegenseitig aufzuspüren. Erst im letzten Jahrzehnt hatte man damit angefangen, Einblick in alte Akten zu gewähren. Schockierendes war dabei zutage gekommen. Da gab es Adoptiveltern, die überzeugt waren, mit legitimierten Anwälten und offiziellen Agenturen verhandelt zu haben und selbstverständlich glaubten, dass die Mütter der Babys einer Adoption zugestimmt hätten. Dass man ihnen geraubte Babys gegeben hatte oder Säuglinge, die von verzweifelten Müttern verkauft

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