Wilder Oleander
wie Omelettes oder Croissants zu sich nehmen konnte.
»Weißt du schon, wer der Glückliche ist?«, fragte Kenny bei einem mit Avocado und Sojasprösslingen belegten Sandwich.
Warum nur hatte Coco ihm erzählt, dass sie auf der Suche nach ihrem Seelenpartner war! Im gleißenden Sonnenlicht und umgeben von ganz normal aussehenden Leuten kam ihr dieses Geständnis albern vor. »Der Kristall drückt sich nicht eindeutig aus, sondern übermittelt Allgemeines. Eher Gefühle. Nur gelegentlich ein Detail. In meinem letzten Fall ging es um ein vermisstes kleines Mädchen. Man gab mir ihren Teddy, und sofort spürte ich, dass sie sich an einem dunklen Ort befand und gefesselt war. Um ein Haar hätte ich den entscheidenden Hinweis übersehen, weil ich mich verkrampfte. Man muss nämlich entspannt bleiben – das ist ganz wichtig.« »Was war denn der entscheidende Hinweis?«
»Ein Geräusch. Hin und wieder kommt mir meine Hellhörigkeit zugute. In diesem Fall war es eine Fabriksirene. Der Polizei gelang es, sie zu orten. Und man fand das kleine Mädchen, übel zugerichtet zwar, aber lebendig.«
Coco nippte an ihrem Wein. »Du wolltest mir doch was erzählen.« Die Sonnenstrahlen zauberten vereinzelte goldene Spitzen in Kennys Haar. Wie es sich wohl anfühlte, überlegte Coco, mit den Fingern durch dieses verführerische Blond zu fahren? Sie dachte an den ungemein echt wirkenden und doch eingebildeten Kuss, mit dem sich Dimitrios in Kenny verwandelt hatte. Ob es in Wirklichkeit auch so schön sein würde?
Kenny zog ein Foto aus der Tasche. »Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte er, »was ich sonst niemandem zeige. Eine Erinnerung, die ich immer bei mir habe.«
Coco starrte auf das Bild. Es zeigte einen jungen Mann neben einem Straßenbahnwaggon in San Francisco, der allerdings im Vergleich zu dem Jüngling klein und eng wirkte.
»Wer ist das?«, fragte sie.
»Ich, mit dreihundertfünfzig Pfund. So sah ich aus, als ich Vanessa Nichols kennen lernte.«
Ihre Augenbrauen kräuselten sich. »Das sollst du sein?«
»Ich gierte ständig nach Süßigkeiten. Die Kollegen am Trinkwasserspender stachelten mich an, mein gutes Gedächtnis unter Beweis zu stellen, gingen Wetten ein, an wie viel ich mich erinnerte. Wenn ich dann abends nach Hause kam, stopfte ich mich mit Schokoriegeln voll.«
Er schob sich eine Sojabohnensprosse zwischen die Lippen.
»Und eines Tages wurde Mr.Superhirn geboren. Ich hängte meinen Job als Ingenieur für Computer-Software an den Nagel und trat als Unterhalter auf. Meine Leibesfülle war kein Nachteil, ich wurde ja sowieso als eine Art Außerirdischer angesehen. Ich verdiente gutes Geld, das ich größtenteils für Fressalien ausgab. Eines Abends, in San Francisco, sah Vanessa Nichols meine Nummer und bot mir einen Job hier an. The Grove würde mir helfen, von meiner Gier nach süßem Zeug wegzukommen, sagte sie.« Er blinzelte in die Sonne. »Ich hab’s nicht geglaubt. Aber The Grove schlägt einen in seinen Bann.« Er sah sie mit seinen von der Sonne erfüllten braunen Augen an. »Als würde in der Luft oder im Wasser ein Zauber liegen. Schon nach ein paar Wochen wurde mir mein selbstzerstörerisches Verhalten bewusst, und ich unternahm etwas dagegen. Das war vor drei Jahren.«
Coco sah zu, wie er sich mit seinen wohlgeformten Fingern
die restlichen Sojabohnensprossen zwischen die Lippen schob. »Und jetzt hast du eine prima Figur.«
»Ich muss noch immer kämpfen. Wenn mich der Heißhunger überkommt.« Er blickte Coco eindringlich an, spielte mit seiner Gabel herum, schob sein mit Eistee gefülltes Glas hin und her, räusperte sich. »Im Grunde bin ich ein Feigling. Ich verstecke mich hier, ich lebe eigentlich gar nicht richtig. Ich habe Angst, in die reale Welt zurückzukehren und dann möglicherweise wieder meiner Sucht nach Süßem zu verfallen.«
Er streckte die Hand aus und legte sie auf die von Coco. Sie hielt den Atem an. Emotionen übermannten sie – Kennys und ihre eigenen, aufeinander prallend, durcheinander wirbelnd. Dennoch zog sie ihre Hand nicht zurück.
»Ich hab dir erzählt, dass ich eine Zeit lang im Carl Jung Institut in der Schweiz war. Wir stehen weiterhin in schriftlichem Kontakt. Sie möchten, dass ich ihnen helfe. Sie glauben, mein Gehirn könnte ihnen ein Hinweis auf die Ursachen und Heilungsmethoden für Krankheiten liefern, die etwas mit Gedächtnisschwund zu tun haben. Alzheimer zum Beispiel. Ich möchte ihnen ja helfen, Coco, aber wenn ich von hier
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